Herr Dr. Harder, ich möchte dieses Gespräch gerne mit einem Zitat von Helmut Newton beginnen: „Die meisten Fotografen sind schrecklich langweilig.“ Warum gehört Helmut Newton, auch im Jahr seines 100. Geburtstags, nicht zu den langweiligen Fotografen?
(Lacht) Helmut Newton ist einer der Fotografen mit den interessantesten Versionen und Visionen in der Mode- und Aktfotografie. Und das seit den 1970er-Jahren. Er ist in seinen Bereichen ein absoluter Visionär gewesen und bis heute unerreicht. Diese Kombination aus Rätselhaftigkeit, subtiler Verführung und zeitloser Eleganz, sowohl im Mode- als auch im Akt-Genre, ist einfach einzigartig.
Dabei ist Nacktheit heute allgegenwärtig und quasi immer verfügbar. Trotzdem wollen die Leute noch immer Helmut Newton sehen. Woher kommt diese Faszination für sein Werk?
Ich denke, er ist einer der großen Klassiker. Die Leute wünschen sich vielleicht auch heute genau diese klassischen Formen und Bilder. Newton hat 1980 mit seinem dritten Buch „Big Nudes“ für unglaubliche Furore gesorgt, auch aus ökonomischer Sicht war es ein Riesenerfolg. Allein die deutsche Ausgabe ist über 100.000 Mal gedruckt worden, und trotzdem finden Sie das Buch in kaum einem Antiquariat. Niemand hat vor Helmut Newton gewagt, lebensgroße Aktbilder zu zeigen. Durch seine Unterstützer in den Museen, etwa Klaus Honnef, hat er seit Anfang der 1980er Jahre ein zusätzliches Forum für seine etwas verruchte, aber auch revolutionäre Idee Frauen darzustellen, bekommen.
Sie sind Kunsthistoriker, wann wurden Sie das erste Mal auf Helmut Newton aufmerksam?
Da ich bereits seit meinem Kunstgeschichtsstudium auf das Thema Fotografie spezialisiert bin, habe ich Newton relativ früh für mich entdeckt. Er ist einer der großen Namen der Fotografiegeschichte, man kommt an ihm nicht vorbei. Zu seinem 80. Geburtstag bin ich ihm in der Neuen Nationalgalerie begegnet. Er lud mich drei Jahre später zu einem Gespräch ein, in dem es um die Gründung seiner Stiftung ging. Am Ende des Gesprächs fragte er mich, ob ich sein Kurator werden möchte. Eine großartige Aufgabe, die ich nun seit langer Zeit mit Freude betreibe. Inzwischen haben wir fast das gesamte Werk, auch alle Negative hier in der Berliner Stiftung. Es ist eine dankbare und verantwortungsvolle Aufgabe, Helmut Newtons unvergleichliches und stilbildendes Werk hinaus in die Welt zu bringen.
Wie haben Sie Newton als Menschen wahrgenommen?
Sehr seriös und intensiv, sehr neugierig und humorvoll. Eine sehr schöne Begegnung, damals im Dezember 2003. Seine Frau June habe ich auch kennenlernen dürfen, und seitdem, also auch nach Newtons Tod, haben June und ich ja intensiv zusammengearbeitet. Beim damaligen Gespräch in der Bar eines Berliner Hotels sind wir immer vom Deutschen ins Englische gewechselt. Wir sprachen über die Fotografie als Medium, über andere Fotografen und eigentlich relativ wenig über ihn und sein Werk.
Andere Künstler sprechen im höheren Alter gern über vergangene Taten, weniger über das aktuelle Geschehen in ihrem Metier. Was Sie schildern klingt aber so, als ob er bis zuletzt an der Fotografie als Handwerk interessiert war.
Exakt, und das zeichnet ihn ja auch aus. Darüber hinaus hatte er wirklich aufregende und ungewöhnliche Bildideen, die er am Set realisierte und seinen Auftraggebern anschließend charmant schmackhaft machen konnte. Wenn ich gefragt werde, warum Newton so erfolgreich und bekannt ist, könnte ich viele Aspekte aufzählen, aber entscheidend ist: Er wurde bis zum Schluss von den unterschiedlichsten Kunden gebucht, gerade weil er so offen und zeitgenössisch blieb. Sein Werk wurde über Jahrzehnte in Magazinen veröffentlicht, und er hat diese Veröffentlichungen immer als seinen „Dynamo“ bezeichnet. So wurde er zum meistpublizierten Fotografen aller Zeiten. Er hat die Kamera sprichwörtlich erst aus der Hand gelegt, als er starb. Newton begann sein Werk mit 16 Jahren, mit den ersten Selbstporträts, aufgenommen 1936 in Yvas Studio. Zwei Jahre später musste er Berlin verlassen. Seit den 1960ern wurde Newton in Paris zu dem Fotografen, den wir heute kennen. Anschließend variierte er seinen Stil immer wieder neu und war dem Zeitgeist stets eine Nasenlänge voraus.
Trotz seiner vielen Bewunderer gab und gibt es auch zahlreiche kritische Stimmen, die Newton und dessen Werk, Sexismus und sogar Rassismus vorwerfen. Wäre ein Künstler wie Newton im Jahr 2020 überhaupt denkbar?
Er hat ja in den späten 1970ern schon einigen Gegenwind von der Frauenbewegung bekommen, etwa von Alice Schwarzer in der Zeitschrift „Emma“. Damals ging es unter anderem um die Fotos von Grace Jones auf dem „Stern“-Cover, die die Sängerin später auf ihren Plattencovern verwendete. Newton hat sich schon damals ziemlich lässig zurückgelehnt und auf die Vorwürfe erwidert: „Ich produziere nur Bilder, dem einen gefällt das und dem anderen nicht.“ Er hat manche seiner provokanten, sexuell ambivalenten Aufnahmen ja Mitte der 1970er-Jahre auch in die „Vogue“ hineingeschummelt. Bei manchen weiß man selbst im Rückblick nicht, ob sie für die „Vogue“ oder den „Playboy“ entstanden sind. Das macht das Ganze bis heute so reizvoll und interessant, sein Spiel mit den Genres und Moralgrenzen, ja mit den Medien.
Fotogalerie: Diese und weitere Werke sehen Sie bei den Ausstellungen anlässlich des 100. Geburtstag Helmut Newtons in Berlin. Weitere Infos zu den Jubiläums-Ausstellungen finde Sie am Ende des Artikels.
Newton arbeitete bis 1975 für den Playboy, ehe er 1976 sein erstes Buch „White Women“ veröffentlichte.
Darin hat er mache „Newton-Version“ eines Modeshootings inszeniert. All das, was in den Modezeitschriften nicht gestattet war, präsentierte er hier in Buchform. Für dieses Buch, einerseits ein kleiner Skandal, erhielt er kurz nach Veröffentlichung den Kodak-Fotobuchpreis. Es gab also immer Befürworter und Gegner seiner durchaus polarisierenden Fotografie, nicht nur im Akt-, sondern auch im Modekontext.
Wenn man die Frauen hört, die vor Helmut Newtons Kamera standen, dann reden diese meist wohlwollend über ihn. Wie etwa im Dokumentarfilm „Helmut Newton - The Bad And The Beautiful“.
In der Tat. Der Regisseur Gero von Boehm hat es mit der Auswahl seiner Gesprächspartnerinnen gut auf den Punkt gebracht. Er lässt zehn Frauen über Helmut Newton und seine Bilder sprechen. So entsteht ein anderer Blickwinkel, der immer wieder auch die Seriosität und Chuzpe Helmut Newtons durchblicken lässt.
Wie würden Sie das Frauenbild beschreiben, das Helmut Newton in seiner Arbeit dargestellt hat?
Er hat immer wieder gesagt, dass er die Frauen liebt. Vor allem starke Frauen. Und das sehen wir auch in seinen Arbeiten, denn er hat Frauen wirklich stark und selbstbewusst, aber auch so verführerisch wie eine Femme fatale dargestellt. Newton hat die gesellschaftliche Rolle der Frau und den Wandel dieser Rolle im Laufe der Zeit visuell begleitet und mitgeprägt. Das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Denn die Liberalität unserer westlichen Gesellschaft, die er über seine Bilder in den Magazinen abgebildet hat, ist ein großartiger Wert.
Wurde Helmut Newton missverstanden?
Gelegentlich schon, doch wenn man seinen eigenen Aussagen glauben mag, war ihm das persönlich völlig schnuppe. Von einigen Rezipienten wurde er auch einfach ignoriert, das ist bei vielen bedeutenden Künstlern der Fall. Schauen Sie auf Picasso in seiner Spätphase und seine erotisierende „Maler und Modell-Idee“. Dafür wurde er immer wieder angegriffen, nichtsdestotrotz ist und bleibt er einer der wichtigsten Künstler aller Zeiten. Und Helmut Newton ist und bleibt einer der größten und einflussreichsten Fotografen aller Zeiten. Alle Genres, in denen er gearbeitet hat, hat er auch entscheidend geprägt. Wenn Sie sich heutige Aktfotografie anschauen, gibt es dort meist auch Bezüge zu Helmut Newton.
Newton hat nie einen Hehl daraus gemacht, vor allem an der Oberfläche und Optik der Dinge interessiert zu sein. Wenn wir an Plattformen wie Instagram denken – wie glauben Sie, hätte Helmut Newton darüber gedacht?
Ich kann mir vorstellen, auch er hätte es eine Zeit lang bedient und dann irgendwann den Spaß daran verloren. Er selbst bezeichnete sich als sehr ungeduldigen Menschen, er war sehr schnell in der Realisierung seiner Bilder. Auf längere Sicht hätte ihn die Oberflächlichkeit, die auf diesen Plattformen herrscht, vermutlich gelangweilt. Seine eigenen Fotografien hingegen sind stets ziemlich raffiniert und durchdacht.
Was erwartet die Besucher der Helmut Newton Foundation?
In der Ausstellung „America 1970s/80s“ zeigen wir momentan völlig unterschiedliche Bilder von vier Fotografen; einer davon ist Helmut Newton. Hier sieht man, wie sich seine Bildsprache veränderte, als er nicht in Paris, sondern in den USA arbeitete. Dort entstanden auch zahlreiche frühe Aktfotos für den „Playboy“, vorher war er ja in erster Linie Modefotograf. Und die große Outdoor-Ausstellung „HELMUT NEWTON ONE HUNDRED“ in Berlin-Kreuzberg, die an Newtons Geburtstag, also am 31. Oktober, eröffnet wird, zeigt einen Querschnitt durch sein Auftragswerk.
Wie gelingt es Ihnen in Zeiten der Pandemie eine solche Ausstellung auf die Beine zu stellen?
Wir können in der Stiftung leider keine große Vernissage veranstalten, haben aber das Museum zumindest wieder regulär geöffnet. Und wir merken, dass das Interesse an Newtons Werk ungebrochen ist. Die Menschen sind kulturell und sinnlich etwas ausgehungert. Im Outdoorbereich haben wir bessere Möglichkeiten, dort ist 24/7 geöffnet. Die große neue Newton-Retrospektive, die ich seit einigen Monaten vorbereitet habe, ist nun auf den Sommer 2021 verschoben. Darauf freue ich mich selbst schon sehr.
Sie sprechen voller Leidenschaft und Begeisterung über Helmut Newton. Wie ist es für Sie persönlich, sein künstlerisches Schaffen zu kuratieren?
Mein Kuratorenjob ist einfach großartig. Ich bin bei aller Begeisterung für Helmut Newton aber immer offen für andere Fotografen. Man muss für eine Sache brennen, und bei mir ist es die Fotografie. Das Interesse und die Begeisterung für die Menschen unterschiedlichster Herkunft standen auch bei Newton im Fokus, er sagte einmal: „Ich bin interessiert an den Berühmten und an den Berüchtigten. Und an den Berüchtigten ein bisschen mehr“. Und genau dieses Zitat hängt jetzt auch in unseren Ausstellungsräumen, konkret über Newtons Schwarz-Weiss-Porträts eben dieser Berühmten und Berüchtigten.
100 Jahre Helmut Newton
Noch bis zum 16. Mai 2021 präsentiert die Helmut Newton Stiftung in Berlin ihre Ausstellung „America 1970s/80s" mit Werken von Evelyn Hofer, Sheila Metzner, Joel Meyerowitz und Helmut Newton.
Helmut Newton One Hundred - Die Outdoor-Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Helmut Newton findet vom 31. Oktober bis zum 8. November in Berlin statt. Als Erinnerung an Newtons Berliner Zeit und sein außergewöhnliches Werk werden auf der 85m großen Wand am Kraftwerk in Berlin-Kreuzberg (Köpenicker Straße 70) rund um die Uhr rund 30 Motive aus allen Schaffensperioden Newtons sowie einige Zitate des Fotografen zu sehen sein.
Weitere Infos zu HELMUT NEWTON ONE HUNDRED finden Sie auf der Seite der Helmut Newton Foundation.
Mehr über Helmut Newton erfahren Sie außerdem in unserer kommenden Dezember-Ausgabe, die am 5. November erscheint.
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