Foto: McLaren
Es ist ein sonniger Tag in Silverstone, und wer das Wetter an der britischen Rennstrecke im Allgemeinen kennt, weiß, dass allein diese Aussage schon fast einem Paradoxon gleichkommt. Ähnlich wie der Versuch, ein Fahrzeug der Marke McLaren mit den Worten „unauffällig“ oder „dezent“ zu beschreiben. Schon aus dem Stand heraus macht der neue McLaren 765LT im knalligen „Nardo Orange“-Farbton mit seinen Flügeltüren, den vier Auspuffrohren und dem riesigen aktiven Heckspoiler einen äußerst spektakulären Eindruck. Als wäre ein Ufo hier in der Boxengasse von Silverstone gelandet.
Genauso markant wie von außen wirkt der Wagen auch im Innenraum: Hautenge Carbon-Schalensitze und Alcantara-Leder in Grau und Orange dominieren das Cockpit. Beim Blick über die Schulter fällt außerdem ein kleines, rot beleuchtetes Fenster auf, das an den Fluxkompensator aus dem Film „Zurück in die Zukunft“ erinnert. Montiert in der Abdeckung zwischen Fahrerkabine und Motorraum, gibt diese Luke den Blick frei auf das 4-Liter-V8-Biturbo-Triebwerk, das quasi das Reisen durch die Zeit – Verzeihung, eine Beschleunigung von 2,8 Sekunden auf 100 km/h und eine Höchstgeschwindigkeit von 330 km/h – überhaupt erst möglich macht. Damit die extreme Hitze des Motors nicht zum Fahrer vordringen kann, besteht das Sichtfenster aus zwei Scheiben und einem Vakuum dazwischen – und stellt damit vermutlich das einzige überflüssige Gewicht (1,5 Kilo) an diesem sonst auf Funktionalität, Leichtigkeit und Performance getrimmten Rennboliden dar.
Der Name 765LT bezieht sich übrigens wie bei allen Modellen von McLaren auf die Anzahl der Pferdestärken, die Abkürzung LT steht für Long Tail, zu Deutsch Langheck. Der Begriff stammt aus der Formel 1 und ist als Hommage an den ersten McLaren F1 GTR Longtail gedacht. Bei McLarens Serienwagen stehen die beiden Buchstaben für eine besonders dynamische, auf Rennsport ausgelegte Fahrzeugvariante. Denn im Grunde basiert der 765LT auf einem McLaren 720S. Nur deutlich aggressiver. Und leichter.
Nach dem Anlegen des 6-Punkt-Gurts drücke ich den Startknopf, ein leichter Bariton-Ton erfüllt das Cockpit, der schließlich nach mehrmaligem Spielen mit dem Gaspedal in einen laut wummernden Bass übergeht. Der 765LT produziert allerdings nicht nur Abgase, sondern auch Feuer. Begleitet wird der Sound nämlich von kleinen Flammen, die aus den vier Auspuffrohren am Heck austreten.
Schon nach wenigen Runden glaubt man, den Lewis Hamilton in sich entdeckt zu haben, so natürlich fühlt sich das Fahrzeug beim Drift mit Tempo 100 um die nächste Kurve an. Alles – vom Fahrwerk über die Dämpfer bis zum Getriebe – ist perfekt aufeinander abgestimmt. Die Übersetzung des 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebes ist kürzer und dreht somit um 15 Prozent schneller aus. Das reduziert zwar einerseits die Höchstgeschwindigkeit auf 330 km/h (der 720S erreicht 341 km/h), dafür schafft der Brite jedoch den Sprint auf 200 km/h nun in sieben und auf 300 km/h in 18 Sekunden. 3,4 Sekunden schneller als ein 720S und nur eine halbe Sekunde langsamer als das Flaggschiff der Marke, der McLaren Senna. Schließlich geht es auf einer Rennstrecke um Kurven- und nicht um Längsdynamik.
Genauso beeindruckend wie die brachiale Beschleunigung des Briten ist allerdings auch seine Bremskraft. Gerade einmal 108 Meter braucht der Wagen, um von Tempo 200 zum Stillstand zu kommen. Kein Wunder, stammt doch das Carbon-Keramik-Bremssystem (wie übrigens auch die eingangs erwähnten Schalensitze) aus dem McLaren Senna. Auf der kurvigen Strecke von Silverstone kann ich daher der Versuchung nicht widerstehen, meinen Bremspunkt Runde um Runde immer ein paar Meter weiter in Richtung Kurve zu verlagern. Auf der sogenannten Hangar Straight, der mit 770 Metern längsten Geraden der Strecke, erreiche ich in unterschiedlichen Runden erst 220 km/h, dann 250 km/h und schließlich sogar 260 km/h. Es ist wirklich beängstigend, wie kurz vor einer Kurve man bei diesem Wagen erst bremsen kann, ohne im Kiesbett zu landen.
Damit liegt der McLaren 765LT fast auf Augenhöhe mit dem gerade einmal 35 PS stärkeren Senna. Für nur circa ein Drittel des Preises (ein Senna liegt preislich knapp unter einer Million Euro) erhält man ein Fahrzeug, das zumindest in Sachen Beschleunigung und Drehmoment (800 Nm) die gleichen Werte liefert. Wer also gerade 335.000 Euro übrig hat, sollte sich dieses Schnäppchen sichern. Allerdings ist Eile geboten, denn der Wagen wurde von McLaren auf 765 Stück limitiert und wird vermutlich schon bis zum Frühlingsbeginn 2021 ausverkauft sein.
Mittel- bis langfristig sollte sich das Investment allerdings auszahlen. Bis spätestens 2024 will McLaren als erster Hersteller von Supersportwagen seine Produktpalette vollständig elektrifizieren, Fahrzeuge auf Basis der 720S-Serie und V8-Motor werden dann durch ein neues Modell mit V6-Hybridmotor ersetzt. Das macht den 765LT zu einem der letzten reinrassigen Verbrenner aus dem Hause McLaren, der Begehrlichkeiten bei allen Rennsport-Fans und Supercar-Sammlern wecken wird.
MCLAREN 765LT
Geschwindigkeit
330 KM/H
Leistung
765 PS
Drehmoment
800 NM
0–100 km/h
2,8 SEKUNDEN
Hubraum
3994 CCM
Gewicht (DIN)
1339 KG
Preis
335.000 EURO
VIER FRAGEN AN MCLAREN-CEO - MIKE FLEWITT
Was hat Ihnen am neuen 765LT besonders gefallen?
Schon die reinen Fahrwerte sind beeindruckend, aber am besten gefiel mir: Sobald man damit auf der Rennstrecke ist, kann man einfach nicht mehr mit dem Grinsen aufhören.
Und wenn Sie sich zwischen dem 765LT und einem McLaren Senna entscheiden müssten?
Ich fürchte, das wäre sehr schwer. Der Senna ist viel extremer und auch einen Tick schneller, dafür ist der 765LT etwas alltagstauglicher, allein schon wegen des zusätzlichen Platzes im Kofferraum vorne.
Worauf können wir uns bei McLaren nächstes Jahr freuen?
Wir haben gerade letztes Jahr unsere neue Hybrid-Plattform präsentiert, darauf basierend kommt im April unser neues Hybrid-Serienfahrzeug.
Wofür steht Ihrer Meinung nach die Marke McLaren?
Für den Enthusiasmus und die Begeisterung am Fahren. Apropos, ich muss jetzt auch los, ich will nämlich selbst noch eine Runde mit dem 765LT über den Silverstone-Parcours fahren.
Der Autor testete den Wagen auf Einladung des Herstellers.
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