Es ist eine der dämlichsten Entwicklungen in einer an dämlichen Entwicklungen nicht armen Zeit: Ihr Name lautet „kulturelle Aneignung“ und hat inzwischen einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Mit dem Begriff ist die „Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägern einer anderen Kultur oder Identität“ gemeint. In der Praxis sieht das dann so aus, dass sich Eltern inzwischen beschimpfen lassen müssen, wenn sie ihre Kleinen im Fasching in ein Indianerkostüm stecken. Aber auch auf der großen Bühne ist „kulturelle Aneignung“ ein Thema: Popstar Billie Eilish wird im Netz angefeindet, weil sie aus Coolness-Gründen mit „schwarzem“ Akzent singe und ihre Übergrößen-Outfits aus der afroamerikanischen Streetwear der 1990er- und der Nullerjahre übernommen habe.
Der Vorwurf zielt auf Bereicherung an fremden ästhetischen Ressourcen, kurz: auf kulturelle Aneignung. In Erinnerung ist auch noch der Fall der Sängerin Ronja Maltzahn, die auf einer „Fridays For Future“-Demo auftreten sollte und dann von den Veranstaltern wieder ausgeladen wurde. Offizielle Begründung: „Es ist für uns nicht vertretbar, eine weiße Person mit Dreadlocks auf unserer Bühne zu haben.“ Man bot der Künstlerin großmütig an, sich vorab die Haare zu schneiden, dann stünde einem Engagement nichts mehr im Wege (ich berichtete an dieser Stelle über den absurden Fall)
Der Reihe nach: Am Abend des 18. Juli versammelte sich auf der Bühne einer Berner Brasserie („Lorraine“) die Schweizer Reggae-Band „Lauwarm“ zu einem musikalischen Gastspiel. Die Stimmung wird als entspannt und heiter beschrieben, bis sich in der Konzertpause einige Zuschauer beim Veranstalter über die Musiker beschwerten. Stichwort: kulturelle Aneignung. Die Beschwerdeführer fühlten demnach „Unwohlsein mit der Situation“, weil zwei Band-Mitglieder Rastafrisuren trügen, die Combo außerdem jamaikanische Reggae-Mucke spiele und die Musiker dabei auch noch bunte Kleider aus Sambia und Gambia trügen. Und das als Weiße.
Roland Hefter: „Einige Teile unserer Gesellschaft sind so krank, dass mir die Worte fehlen. Wir brauchen 'kulturelle Aneignung'“!
Der Veranstalter entschied sich daraufhin, das Konzert abzubrechen. Erst berichteten nur Schweizer Medien über den Vorfall, inzwischen zieht die Geschichte vom abruptem Konzert-Ende weite Kreise. Auch in den sozialen Medien. So zeigt sich etwa der Münchner SPD-Stadtrat, Kabarettist und Liedermacher Roland Hefter entsetzt über diesen willkürlichen Akt der Zensur und fordert in seinem Facebook-Beitrag explizit zur Aneignung fremder Kulturen auf: „Einige Teile unserer Gesellschaft sind so krank, dass mir die Worte fehlen. Wir brauchen ‚kulturelle Aneignung‘! Nur so kann man mit Kultur die Welt, das Verständnis und die Freundschaft von Menschen aus verschiedenen Kulturen voranbringen. Europäische Bands spielen Reggae, Country und Blues. Arabische Musiker spielen Beethoven und Mozart und am besten alle miteinander – und das ist gut so! Deutsche Köche kochen israelische Spezialitäten und umgekehrt. Ich freu mich über jeden Afrikaner oder Chinesen in Lederhose und Dirndl und jeden Jugendlichen, egal wo er herkommt, wenn er Dreadlocks und Rastalocken trägt, wenn es ihm gefällt. Kultur wird von Menschen für Menschen gemacht – und zwar für alle Menschen.“
Eine der prominenten Stimmen, die den Beitrag von Roland Halfter kommentieren, stammt von Alt-OB Christian Ude.
Unter den Post schreibt er: „Lieber Roland, herzlichen Dank für Deine erfrischenden Worte. Ohne ,kulturelle Aneignung‘ gäbe es keinen Jazz in Europa. Davon haben in meiner Jugend alte Nazis geträumt. Und nur die Spießer von der ,Sauberen Leinwand‘ waren so sittenstreng und verbotsfreudig wie heute die Sittenwächter der woke-Generation. Immerhin durfte man damals aber noch unbeanstandet aussprechen, dass es überhaupt Männer und Frauen gibt…“
„Wir möchten uns bei allen Menschen entschuldigen, bei denen das Konzert schlechte Gefühle ausgelöst hat.“ – Statement des Berner Konzertveranstalt
Zur Einordnung: Ude, einer der Vorreiter der „Christopher Street Day“-Bewegung in bundesdeutschen Großstädten, kritisiert hier die sogenannte „Woke-Bewegung“ mit klaren Worten und vergleicht deren zunehmende Lust an der Zensur mit der „Aktion Saubere Leinwand“, einer erzkonservativen Initiative, die in den 1960er-Jahren die Kinoleinwände der Republik vor „Schmutz und Schund“ bewahren wollte und dabei so restriktiv vorging, dass sich sogar die katholische Kirche davon distanzierte.
Der Berner Konzertveranstalter veröffentlichte im Nachgang übrigens noch folgendes Statement, um sein drastisches Verhalten zu begründen: „Wir möchten uns bei allen Menschen entschuldigen, bei denen das Konzert schlechte Gefühle ausgelöst hat. Wir haben es verpasst, uns im Vorhinein genug damit auseinanderzusetzen und euch zu schützen“, heißt es in einem Facebook-Posting der Brasserie.
Einfach dämlich.
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