"Wer sich tätowieren lässt, weiß, dass er sich damit ein für alle Mal und für sein ganzes Leben festlegt", soll einst Herbert Hoffmann gesagt haben, der legendäre frühere Besitzer von Hamburgs erster Tätowierstube. "Er ist kein Unentschlossener, kein Zweifler.“
Hoffmann wusste wovon er sprach. Er tätowierte noch bis kurz vor seinem Tod. Der Tätowierte ist, gleichgültig ob er sich nun ein Arschgeweih, ein Tribal oder einen Anker hat stechen lassen, gezeichnet fürs Leben. Wer weitermacht, wird irgendwann ein lebendiges Gemälde.
Im Alter sehen wir alle gleich beschissen aus
"Und wenn die Haut im Alter schrumpelig wird?" – Das scheint immer noch das vorherrschende Totschlag-Argument der meist bleichhäutigen Tattoo-Kritiker zu sein. Doch mal Hand aufs Mutterherz: Ändern Tätowierungen etwas an der Tatsache, dass man im Alter hängende Haut hat?
Gerade tätowierte Haut – ob sie nun hängen mag oder nicht – strahlt bei alten Menschen ein gewisses Charisma aus, einen Charme von Verwegenheit und wirklich gelebter Lebenszeit.
"Hast du dir das auch gut überlegt?" – auch diesen Satz kennen viele. Dicht gefolgt von der oberlehrerhaften Phrase: "Und wenn dir das Motiv irgendwann nicht mehr gefällt?" Beide Argumente können nur von Menschen stammen, die sich selbst noch nie „unter die Nadel“ gelegt haben.
Tätowierungen brauchen weder eine Legitimation in Form einer erzwungenen Bedeutung, noch die emotionale Aufladung durch irgendein besonderes Lebensereignis. Wenn dem trotzdem so ist – schön. Wenn nicht, dann ist es auch egal.
„Meine Tätowierungen machen mich glücklich“
Manchmal reicht ein einfacher Satz aus, um die Sache auf den Punkt zu bringen: „Meine Tätowierungen machen mich glücklich“, sagt der 69-Jährige Jakob Waser. Er ist von Kopf bis Fuß tätowiert. Und was das Alter betrifft: Waser verdient sein Geld als Model. Wie viele seiner Altersgenossen können das schon von sich behaupten?
Damals wie heute erzählt jede Tätowierung eine Geschichte. Selbst der Schmetterling auf dem Schulterblatt, das Tribal am Schienbein oder das Yolo-Lettering auf dem Unterarm. Nämlich die, dass der Träger eines Tages einen Entschluss gefasst hat, der ihn für den Rest seines Lebens begleitet.
Die Tätowierung ist ein Zeugnis für Konsequenz, Kompromisslosigkeit und auch für einen gewissen Mut. Für manche Menschen ist die Tätowierung vielleicht auch die konsequenteste Tat in ihrem gesamten Leben.
Alleine deshalb werden Tätowierungen niemals ein kurzweiliger Mode-Trend sein. Denn anders als die olive H&M-Bomberjacke oder der Canvas-Rucksack von Fjällräven können sie nicht einfach abgestriffen und in die dunkle Ecke der vergessenen Zeitgeschmäcker gelegt werden.
Die Farben mögen verblassen, die Linien verschwimmen: Die Idee hinter dem Motiv bleibt – verbindlich bis in den Tod.
Ein persönlicher, kompromissloser Ausdruck
Das perfekte Tattoo gibt es nicht, auch deshalb kann daraus kein massenkompatibler Lifestyle-Trend werden. Denn wie die unzähligen Motive ist nun mal auch unsere Haut in ihrer Beschaffenheit individuell. Wichtig ist nur, hinter der Tätowierung zu stehen, mit all ihren möglichen Blow-Outs oder Fadings – mit all ihrer Vergänglichkeit.
Eine Tätowierung hat nichts mit dem zur Schau stellen von Individualismus zu tun. Es ist und bleibt lediglich ein Resultat der eigenen Vorstellung von Ästhetik. Eine Form des persönlichen Ausdrucks – ganz wie das Tragen eines Kleidungsstücks – nur eben viel kompromissloser.
Die Tätowierung bleibt rebellisch!
Tattoos haben in den letzten zehn Jahren eine gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, die es den Trägern erlaubt, nun trotz eines „japanischen Arms“ in einer Bank arbeiten zu dürfen, zur Bundeswehr zu gehen oder Manager zu werden. Warum sollte dieser Umstand negativ gewertet werden?
Dass sich heutzutage jeder tätowieren lassen kann, ohne beruflich oder sozial geächtet zu werden, zeigt, dass wir inzwischen den Sprung in eine freiere Gesellschaft geschafft haben. Es ist ein Beweis dafür, das wir inzwischen das Privileg haben, uns nach Außen hin so ausdrücken zu können, wie uns gerade der Sinn steht. Manche Menschen kommunizieren dies über ihre Kleidung oder über ein schickes Auto – andere eben über ein Tattoo.
Aber trotz gesellschaftlicher Akzeptanz und einem in der Tat nicht abzusprechenden Hipster-Trend: Die Tätowierung bleibt rebellisch! Weil es sehr wohl einen Unterschied dazwischen gibt, sich eine neue Brille zu kaufen oder sich mit 15.000 Nadelstichen pro Minute einen Totenkopf in die eigene Haut ballern zu lassen.
Die Tätowierung bleibt weiterhin ein soziales Distinktionsmittel, eine Sehnsucht nach Ausbruch und Verwegenheit. Sie bleibt der ewige Auslöser endloser Diskussionen am Esstisch der Eltern. Der Grund für den erhobene Fingerzeig von Lehrern und Moralaposteln. Allzu gerne rezitieren diese die unendlich oft gezogenen Vergleiche mit „Knackis und Seeleuten“, ohne dabei den eigenen ästhetischen Anspruch an sich selbst zu hinterfragen.
Tattoos stehen für den positiven Wandel unserer Gesellschaft
Heute sind Tätowierungen der Beweis für einen positiven gesellschaftlichen Wandel. Sie stehen für Freiheit und persönlichem Ausdruck. Selbst das Tribal am Oberarm oder die chinesischen Zeichen auf der Hüfte repräsentieren diese Lebensphilosophie.
Selbst wenn sich von heute auf morgen niemand mehr tätowieren ließe: Die „Bilderbuchmenschen“ – wie sie einst der Tätowierer Herbert Hoffmann so schön umschrieb – würden dennoch in den nächsten Jahren unsere Altenheime füllen.
Schrumpelige Tribals, verblichene Sterne, verschwommene Anker und Hirschgeweihe wären dann wieder das, was die Tätowierkunst einst so populär gemacht hat: Ein Zeichen von Gruppenzugehörigkeit und ein Aufschrei gegen den gähnenden Einheitsbrei einer angepassten Spießbürgerschaft.
Unser Autor Philipp Nowotny ist da übrigens völlig anderer Meinung: "Seien Sie ein Rebell", sagt er. "Untätowiert ist das neue Tätowiert." Seinen Kommentar gibt es hier zu lesen.