Herr Kruspe, ursprünglich sollte Ihr Album „A Million Degrees“ schon 2015 erscheinen, was ist passiert?
Ich musste komplett von vorne anfangen. Vor drei Jahren war das Album fast fertig. Dann hatte ich einen Wasserschaden. Alles war zerstört. Ich war erst frustriert, dann habe ich es als Chance begriffen.
Muss man nicht sowieso leiden, um gute Kunst zu machen?
Das ist die große Frage. Ich habe so meine Vermutung.
Verraten Sie sie uns!
Ich kann nur von mir sprechen: Unbewusst bewege ich mich sicher immer in eine gewisse Destruktion hinein. Aus diesem Gefühl des Schmerzes, aus dieser Dunkelheit heraus kann ich schöpfen.
Das klingt aber auch nach einer gefährlichen Lebensweise.
Super gefährlich! Das ist nicht gesund, ohne Frage. Aber änderte ich das, würde ich nicht mehr funktionieren. Wenn ich immer happy wäre, würde ich vielleicht nicht mehr schreiben.
Dafür wären Sie vielleicht zufriedener?
Diesen Sprung habe ich nie gewagt. Nur wenn ich kreativ bin, fühle ich mich als Person wertig. Aber ich erforsche mich selbst, wie weit ich mich nach unten fallen lassen darf.
Woraus ziehen Sie Ihre musikalische Inspiration?
Ich langweile mich schnell, auch vor mir selber. Und aus Langeweile entsteht Neugier: Was ist gerade angesagt, wohin bewegt sich Musik generell?
Welchen Trend sehen Sie?
Gerade passiert ein großer Sprung: Die Rebellion der Rockmusik ist vorbei. Diese lauten Gitarren, zu denen früher die Eltern gesagt haben, mach leiser, die interessieren keinen mehr. Heute findet die Rebellion – vor allem in der Jugendkultur – eher sprachlich statt. Leider kann ich das oft nicht mehr nachvollziehen, weil mich diese neue Macho-Kultur nicht anspricht.
Welches Konzert haben Sie sich zuletzt angesehen?
Vor Kurzem war ich bei einem Auftritt von so einer jungen, total angesagten Band: Greta Van Fleet. Die klingen wie Led Zeppelin vor 40 Jahren. Mich hat das nicht berührt, ich halte das für ein reines Nostalgieprojekt. Die Frage ist: Muss eine erfolgreiche Band heutzutage nicht auch die Gegenwart reflektieren?
Wie beantworten Sie das für sich?
Auch ich liebe die alten Zeiten. Also versuche ich, Elemente daraus mitzunehmen. Ich bringe aber immer auch moderne Aspekte ein. Mein Ziel ist der perfekte Song. Ich will etwas erschaffen, das die Massen bewegt. Davon träume ich, seit ich als Jugendlicher „Das Parfüm“ gelesen habe.
Damit der perfekte Song klappt, darf man ihn eigentlich gar nicht wollen, oder?
Man muss aufpassen, wem man mit seinem Song gefallen will. Prinzipiell ist Musik aber natürlich auch ein Handwerk, das man erstmal erlernen muss.
Und für das man keine Deadlines braucht, die Sie ja ablehnen?
Das funktioniert für manche, ich will mich aber nicht drängen lassen. In New York habe ich mal einen Maler besucht, in dessen Atelier zwölf Bilder hingen. Wenn er bei einem Bild nicht weiterkam, ging er einfach zum nächsten. Das habe ich mir abgeschaut: Ich gehe um zwölf Uhr ins Studio, schau mir meine Songideen an und ob ich gerade zu einer davon etwas fühle. Manchmal fühle ich gar nichts.
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, „Emigrate“ sei für Sie Freiheit?
Ich kann mich dadurch von diesem geschlossenen Kosmos „Rammstein“ wegbewegen, kann mit jedem arbeiten, mit dem ich möchte und muss nicht mit fünf Leuten darüber diskutieren.
Sie sind Ihr eigener Boss.
Genau. Und wenn ich weiß, dass am Ende des Tages ich entscheide, bin ich ein viel besserer Teamplayer. Bei „Rammstein“ wirst du oft in eine Ecke gedrängt und triffst dann aus Egogründen ein Urteil, das nicht gut ist. Weil du Recht haben willst, weil du einen gerade nicht leiden kannst oder weil du einfach stänkern willst.
Verstehen Sie „Emigrate“ als Therapie?
Ja, um mich von dieser Sechser-Demokratie zu erholen. Und um sie wieder schätzen zu lernen. Manchmal ist es ja auch toll, wenn du fünf Leute hast, die dich mittragen, wenn du mal schlecht drauf bist. Diese zwei Projekte sorgen für eine gute Balance in meinem Leben und sind für mich ebenbürtig.
Wie schreiben Sie Songs für „Emigrate“ und wie für „Rammstein“?
Früher habe ich das strikt getrennt, gerade verschmilzt das komischerweise aber wieder. Auf dem neuen „Rammstein“-Album werden viele Sachen drauf sein, die eigentlich für „Emigrate“ gedacht waren. Grundsätzlich bin ich bei „Emigrate“ ein bisschen offener. Ich kann meine eigene Stimme als Instrument benutzen – und eigene Texte schreiben. Das mache ich bei „Rammstein“ logischerweise zusammen mit Till.
Till Lindemann hat mit Ihnen auf „A Million Degrees“ den Song „Let’s Go“ eingesungen. Haben Sie ihn dazu angesprochen oder hat er sich bei Ihnen beworben?
(Lacht laut) Ich glaube, Till bewirbt sich grundsätzlich nicht. Hintergrund ist, dass „Emigrate“ ursprünglich als Kollaboration zwischen Till und mir gedacht war. Wir wollten mal was ohne die Band zusammen machen. Das fanden die anderen irgendwie nicht so toll. Damals kam mir die Idee zum Song. Ich habe mir überlegt, was ich eigentlich über Till und mich sagen will. Und mir ist unsere Zeit nach der Maueröffnung eingefallen: ein wilde Zeit, in Schwerin und Berlin, der Wilde Westen. Es geht um die Freundschaft, die wir damals hatten.
Wie hat sich Ihre Freundschaft über mehr als 30 Jahre verändert?
Naja, wie es so geht im Leben: Es gibt leider nie ein Happy End. Freunde sollte man nur ein-, zweimal im Monat treffen. Es ist unnatürlich, wenn Männer jahrzehntelang extrem eng zusammen sind. Man will irgendwann seine Ruhe haben.
Sie beide sind heute eher Kollegen?
Klingt bescheuert, aber so ist es irgendwie. Ich habe aber immer noch ein Grundvertrauen: Wenn irgendwas ist, weiß ich, dass ich Till anrufen kann und er da ist, genauso wie die anderen.
Mit „Rammstein“ gehen Sie 2019 wieder auf Tour, freuen Sie sich darauf?
Klar, auf der Bühne zu stehen ist gut fürs Ego. Und wir haben innerhalb von einem Tag die ganze Stadiontour verkauft, unglaublich!
Aber im Studio fühlen Sie sich wohler?
Im Studio gibt es diesen Moment, wenn ein Song zusammenkommt. Das kann man nicht beschreiben, das ist besser als ein Orgasmus. Live interpretierst du nur das, was du vorher mal geschrieben hast. Da ist nicht viel Freiraum, du bist ein Roboter.
Wird es trotzdem irgendwann auch mal eine „Emigrate“-Tour geben?
Im Moment funktioniert die Balance: Ich kann bei „Emigrate“ schreiben und bei „Rammstein“ live touren. Vielleicht gibt’s ja mal die Möglichkeit, mit „Rammstein“ einen „Emigrate“-Song zu spielen. Das wäre doch toll!
Da würden sich bestimmt einige freuen!
Ja, nur einer vielleicht nicht! (lacht)
Aha, wer denn?
Nene, war nur Spaß.
Richard Z. Kruspe, 51, in Wittenberge geboren und in Schwerin aufgewachsen, lebte einige Jahre in New York und heute in Berlin. Noch zu DDR-Zeiten absolvierte er eine Koch-Ausbildung. Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre spielte er als Gitarrist in verschiedenen Bands, bevor er 1994 unter anderem mit Sänger Till Lindemann „Rammstein“ gründete. Das Berliner „Kollektiv“ machte weltweit Furore mit martialischem Sound, provokanten Texten und Videos sowie spektakulären Bühnenshows.
Nach langer Pause bringt „Rammstein“ 2019 wieder ein Album heraus und tourt durch die Stadien der europäischen Metropolen. Vorher erscheint bei Universal mit „A Million Degrees” das dritte Album von Kruspes Solo-Projekt „Emigrate“. Auf der Platte wirken als Gastmusiker unter anderem Ben Kowalewicz (Billy Talent), Till Lindemann (Rammstein) und Cardinal Copia (Ghost) mit.
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