1. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Erfinder der Streif
Wie so viele gute Geschichten, beginnt die der Streif mit einer Abfuhr. Als die Männer des Kitzbüheler Skiclubs 1931 der Hahnenkamm-Bergbahn AG die Idee eines Skirennens im Januar schmackhaft machen wollten, kassierten sie eine Absage. Aber eine mit Hintertür: „Wohl aber sind wir nicht abgeneigt, dem Gedanken eines Märzrennens auf dem Hahnenkamm näher zu treten, zu welchem Zwecke wir zur Gänze einen Wanderpreis stiften würden“, hieß es im Antwortschreiben der Bergbahnler. Der spät im Winter liegende Termin sollte aller Welt beweisen, dass man am Hahnenkamm immer noch Ski fahren konnte, während in anderen Wintersportorten schon der Frühling herrschte.
2. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Strecke
Die Streif ist 3,312 Kilometer lang, Höhenunterschied: 860 Meter. Schon wer die Strecke mal im Sommer bergab gewandert ist, hat ein Gefühl dafür bekommen, wie verdammt steil sie ist – und somit einen Heidenrespekt vor den Wintersportlern. Etwa zwei Stunden braucht man zu Fuß. Schwer vorstellbar, dass man mit Skiern weniger als zwei Minuten braucht.
Wobei: Wer wie die meisten Abfahrtsfahrer die ersten 160 Meter in 8,5 Sekunden schafft, ist von Beginn an zügig unterwegs. Mit 85 km/h geht es auf blankem Eis gleich mal in die steilste Passage: die berüchtigte Mausefalle mit 85 Prozent Gefälle. Je nach Bedingungen fliegen die Athleten hier schon mal 70, 80 Meter weit. Früher gab es mal Pistenbesichtigungen für Journalisten. Sie wurden abgeschafft, weil die Damen und Herren von der Presse selbst beim langsamen Abrutschen am Pistenrand immer wieder stürzten und den Fangzaun abräumten.
Für die Profis geht es nach dieser ersten Mutprobe heiter weiter: die Fliehkraft in der folgenden Karussellkurve beträgt 3,1 G. Weiter unten in der Hausberg-Kompression sind es gar 3,5 G – so viel muss ein Astronaut beim Start seiner Rakete aushalten. Das Gesichtsfeld wird röhrenförmig, man spricht vom Greyout, der Vorstufe von Blackout und Bewusstlosigkeit, welche bei 5 G einsetzt. Die kann man sich bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit auf der Streif von 103 km/h aber schlecht erlauben.
3. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Stürze
Die Stürze sind ein Kapitel, das ein ganzes Buch füllen würde. Oder besser: einen Film mit Überlänge und Altersbeschränkung. Denn was man im Internet unter „Die schlimmsten Stürze auf der Streif“ findet, sollte man den lieben Kleinen zu Hause besser nicht zeigen. Zumindest falls man sie je wieder in einem Skikurs anmelden will.
Unzählige Profis hat diese Piste abgeworfen, nicht wenige lagen danach tage- oder gar wochenlang im Koma, mussten ihre Karriere beenden und standen nie wieder auf Skiern. Ein besonders irrer Fall: der des Slowenen Andrej Jerman. Er stürzt 2013 auf der Streif, rappelt sich wieder auf, will weiterfahren, bricht zusammen, wird mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen und erklärt drei Tage später seinen sofortigen Rücktritt. Da war einer froh, den Wahnsinn überlebt zu haben.
Ein Wunder, dass gerade bei den Horrorstürzen in den vogelwilden 80er-Jahren, als die Strecke noch lange nicht so gut gesichert war wie heute, niemand zu Tode kam. Wer sich all die Gehirnerschütterungen, Schädel- Hirn-Traumata, Lungen- und Kreuzbandrisse, Nasen-, Rippen-, Arm- und Beinbrüche dennoch ansehen will, bitte schön, hier sind ein paar Stichworte für die YouTube-Suche: Todd Brooker 1987, Pietro Vitalini 1995, Daniel Albrecht 2009 sowie die Schwarzweiß-Klassiker „Kitzbühel Stürze“ und „Crash only“ von 1981.
4. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Sprüche über die Streif
Boris Becker, der zwar nie als Skifahrer auffällig geworden ist, sich aber mit Extremsituationen sehr wohl auskennt, sagte über die Hasardeure auf der Streif mal, nicht ohne Respekt: „Meines Erachtens sind die alle ein bisschen lebensmüde.“ Reporter-Legende Harry Valerien fasste die Abfahrt so zusammen: „Hier unten feiern die Läufer ihren Sieg, und oben kämpfen sie ums Überleben.“ So würde das natürlich keiner der Streiflinge unterschreiben, aber ganz von der Hand zu weisen sind die Gedanken an den Tod nicht. Der Österreicher Stephan Eberharter, immerhin Abfahrts-Olympiasieger, sagte über sein Streif-Debüt 1991: „Ich hatte durchaus Todesangst-Gefühle.“
Es geht ja schon im Starthaus los: Wer da rauslugt, sieht, was gleich auf ihn zukommt. „Als ich das erste Mal im Starthaus stand, hatte ich irgendwie das Gefühl: Jetzt werde ich zur Schlachtbank geführt“, erzählte der Liechtensteiner Marco Büchel einmal. Und der OK-Chef des Rennens, Michael Huber, beschreibt die Stimmung dort so: „Es gibt keinen Startraum, wo so eine Stille herrscht wie auf der Streif.“
Das Schöne an der Strecke: „Man muss sich nur am Start überwinden – danach kann man eh nicht mehr stoppen“, wie der Österreicher Fritz Strobl, bis heute Rekordhalter auf der Streif, konstatierte. Ähnlich ausgeliefert fühlte sich auf der Streif offenbar der fünffache Gesamtweltcup-Sieger Marc Girardelli. Er sagte hinterher: „So muss man sich fühlen, wenn man ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springt.“
Für den legendären Franz Klammer, erfolgreichster Abfahrtsläufer der Weltcup-Geschichte, ist die Streif schlicht „die herausforderndste Abfahrt von allen“. Es habe ihn „heruntergebeutelt von oben bis unten“, erinnert er sich seiner vier Siege in Kitzbühel. „Heute bin ich froh, dass ich nicht mehr runterfahren muss.“ Worauf es neben Mut ankommt? Offenbar auf Kraft und Erfahrung. „Hätten wir alle nicht eine solche Bombenkondition, läge die Hälfte von uns schon auf dem Friedhof“, erklärte Olympiasieger Leonhard Stock. Und Max Franz, Coverboy des Plakats zum Film „One Hell Of A Ride“, meinte: „Die Streif kennt keine Zufallssieger. Es braucht einfach Jahre, bis du die Strecke beherrschen kannst.“
Allerdings kann sie auch zur Obsession werden: „Ich will zur Streif zurück. Ich will ihr zeigen, wer hier der Chef ist“, sagte Daniel Albrecht, der nach einem Horrorsturz drei Wochen im Koma lag, noch im Krankenhaus. Manchen lehrt die Streif aber auch Demut. Hans Grugger, der 2011 nach einem Sturz fünfeinhalb Stunden notoperiert wurde und einen Monat auf der Intensivstation lag, sagte: „Ich weiß, dass ich ohne die schnelle Rettung damals tot wäre. Ich bin einfach dankbar, dass mich die Streif am Leben gelassen hat.“
5. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Rekorde
Den Sieg beim ersten Hahnenkamm-Rennen, das auf der Streif ausgetragen wurde, holte sich 1937 der Kitzbüheler Thaddäus Schwabl. Auf seinen Holzlatten brauchte er 3:53,1 Minuten, bis er im Ziel ankam. Fritz „The Cat“ Strobl, der seit dem 25. Januar 1997 den Streckenrekord hält, schaffte es 60 Jahre später in 1:51,58 Minuten. Den Geschwindigkeitsrekord hält der österreichische 100-Kilo-Mann Michael Walchhofer: Mit 153 km/h raste er 2006 über den Zielhang. Rekordsieger ist der Schweizer Didier Cuche, der fünfmal auf dem Stockerl ganz oben stand (1998, 2008, 2010, 2011, 2012). Mit 37 Jahren ist Cuche auch der älteste Sieger. Der Zuschauerrekord stammt aus dem Jahr 1999: 100.000 – bei nur 8200 Einwohnern. Ex-Skirennläufer und Schlagerstar Hansi Hinterseer, der mitten auf der Streif auf der Seidlalm aufgewachsen ist, sagt über das gewaltige Gebrüll, das die Athleten spätestens ab der Hausbergkante empfängt: „Es gibt keine Abfahrt auf der Welt, bei der man die letzten 30 Sekunden des Rennens einsehen kann. Und es gibt keine Abfahrt, bei der man in einen solchen Hexenkessel reinfährt.“
6. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Deutschen
Nimmt man den Slalom und die früher noch bestrittene Kombination dazu, hat Österreich mit 114 die meisten Siege bei den Hahnenkamm-Rennen eingefahren. Auf Platz sechs der Nationenwertung: Team Germany mit insgesamt 9 Siegen, auch dank der Slalom-Helden Christian und Felix Neureuther, die gemeinsam drei Siege beisteuerten. Neureuther senior schwärmt noch heute vom Erlebnis Streif: „Ich bin die Abfahrt selbst zweimal gefahren, mit 19. Geil! Das war mein Wunschtraum. Ich dachte nicht im Ansatz, das könnte gefährlich sein. Aber an der Ausfahrt Steilhang hat es mich zwischen die Bäume reingewickelt – da lagen schon einige Franzosen herum.“
Aufs Siegerpodest bei der Abfahrt schaffte es 1965 der Kleinwalsertaler Ludwig Leitner, der vier Jahre später das Double für James-Bond-Darsteller George Lazenby in „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ geben sollte. Gleich doppelt erfolgreich war der Chiemgauer Josef „Sepp“ Ferstl. Er gewann in seiner ganzen Karriere genau zwei Weltcuprennen: die Streif 1978 und die Streif 1979. Danach dauerte es fast 40 Jahre bis zum nächsten deutschen Streif-Sieg: Rookie Thomas Dreßen triumphierte 2018, im Jahr darauf gewann Ferstls Sohn „Pepi“ den Super-G.
7. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Exoten
1974 gewann Slalom-Ass Hansi Hinterseer als bislang letzter Kitzbühler den Slalom – im Jahr darauf schnallte er sich einen Sturzhelm aufs blonde Haupt und wagte sich erstmals mit den ungewohnt langen Abfahrtslatten auf die Streif: Es sollte auch das letzte Mal bleiben. Ähnlich ging es dem schwedischen Slalom-Superstar Ingemar Stenmark. Er rutschte 1981 die Streif hinunter, um ein paar Punkte in der Kombinationswertung zu erhaschen. Im Touristenstil trudelte der Skifahrer mit den bis heute meisten Weltcupsiegen (86) mit elf Sekunden Rückstand ins Ziel, Platz 34. Sein Kommentar: „Abfahrt? Nie wieder!“
Heute heißen die Exoten Simon Breitfuss Kammerlander aus Bolivien oder Ioan Valeriu Achiriloaie aus Rumänien. Oder Kristian Ghedina: Der Italiener, immerhin Vize-Weltmeister in der Abfahrt 1996, verblüffte die Zuschauer in Kitzbühel 2004, als er beim letzten Sprung eine kleine Show-Grätsche hinlegte und mit weit gespreizten Beinen Richtung Ziellinie flog – bei Tempo 140. Er wurde noch Sechster.
8. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Der Zaster
Nirgendwo im Ski-Weltcup gibt es für einen Sieg mehr Geld als auf der Streif: 74.000 Euro – fast doppelt so viel wie für einen Sieg bei den übrigen Rennen. Zum 80. Rennen 2020 haben die Veranstalter noch was draufgelegt: Beim Jubiläumsrennen gibt es 100.000 Euro für den Sieger.
Abfahrtsrennen waren nicht immer so lohnend. Ken Read, der 1980 als erster Kanadier auf der Streif triumphierte, sollte als Belohnung einen lebenden Gockel erhalten. „Ein Jahr nach meinem Sieg haben mich die Kitzbüheler in Garmisch mit einem Hahn besucht und wollten mich in Kitzbühel zum Essen einladen“, erzählte er. „Aber ich verletzte mich in Garmisch und versäumte das Rennen. Im Frühling bekam ich ein Paket mit der Post, darin der Hahn – ausgestopft. Er stand dann jahrelang in einer Ecke. Als das kanadische Sportmuseum außergewöhnliche Sportartefakte für internationale Erfolge suchte, war mir klar, was ich mit dem Gockel machen würde. Bei Olympia 1988 in Calgary wurde dann vor Hunderten Menschen in Kanadas Hall of Fame Ken Reads ‚Cock‘ präsentiert.“ Die Doppeldeutigkeit des Wortes entging den amüsierten Zuschauern natürlich nicht.
9. Fakt über das Hahnenkammrennen in Kitzbühel: Die Party
Die sogenannte Weißwurstparty im „Stanglwirt“ findet am Abend vor dem Rennen statt und ist mit ihrer Mischung aus Karneval, Oktoberfest und Oscar-Verleihung quasi exemplarisch für den schwer zu fassenden Ausnahmezustand, der das Tal immer Ende Januar erfasst. Die anderen Party-Hotspots für alle, die es nicht zu Arnold Schwarzenegger, Andreas Gabalier & Co. in den „Stanglwirt“ geschafft haben: die Hummerparty im „Kitzhof“, Rosis Schnitzel-Party in den „Sonnbergstuben“ oder das Kitz ’n’ Glamour im „Take Five“, um nur mal die Promi-Feste zu nennen.
Am Streif-Wochenende wird die Gamsstadt zum VIP-Magneten und die Innenstadt zur Partyzone. Weil in früheren Jahren die Druckbetankung schon mal etwas aus dem Ruder lief, ist der Verkauf von hochprozentigem Alkohol in der Altstadt nun untersagt. Dafür gibt es aber noch den „Londoner“: jenen berühmt-berüchtigten Pub, wo schon Franz Klammer feierte und wo der jeweils aktuelle Streif-Sieger samt Kollegen irgendwann spätabends hinter der Theke steht – traditionell mit nacktem Oberkörper – und mit Bier, Schnaps und Schampus um sich spritzt.
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