Egal wie das Spiel der DFB-Elf heute ausgeht, einen Titel hat Deutschland längst errungen: Wir sind Weltmeister! Doppelmoral-Weltmeister. Und das vollkommen verdient.
Seit Beginn der Fußball-WM in Katar überbieten sich hierzulande Politiker, Fußballfunktionäre, Kommentatoren und alle, die sich immer schon im Besitz der absoluten Wahrheit glaubten, darin, den Weltverband Fifa und das Gastgeberland Katar mit scharfen Worten zu kritisieren. Und das übrigens zurecht.
So gibt es wenig Zweifel daran, dass nicht nur die kurzen Wege zwischen den Austragungsorten das Fifa-Exekutiv-Komitee überzeugte, dem Zwergstaat in der Wüste das wichtigste Fußballturnier der Welt anzuvertrauen. Und dass der Bau der milliardenteuren Spielarenen Opfer forderte, geben inzwischen sogar offizielle Vertreter des Veranstalters zu. Der Generalsekretär des Organisationskomitees, Hassan al-Thawadi (44), sprach jetzt von mehreren Hundert toten Gastarbeitern im Zusammenhang mit der WM. „Die Schätzung ist bei etwa 400, zwischen 400 und 500. Ich habe die exakte Zahl nicht“, sagte al-Thawadi dem britischen TV-Sender „Talk TV“. Auch der langjährige Fifa-Präsident Joseph „Sepp“ Blatter, der 2016 wegen Korruptionsvorwürfen sein Amt niederlegte, bezeichnet die Vergabe nach Katar längst als „Irrtum“.
Jetzt, nachdem das Turnier mit dem Ende der Vorrunde und mit dem Beginn der K.-O.-Spiele erst in die entscheidende Phase geht, ist der Spaß für den Ausrichter allerdings auch schon wieder vorbei: Erstmals in der langen Geschichte der Fußballweltmeisterschaften verlor das Team des Gastgeberlandes all seine Spiele. Auch das zeigt, dass kaum sportliche Gründe ausschlaggebend waren, die WM in Katar durchzuführen. Und ja, dann ist da auch noch die vielfach beschriebene Abwesenheit von Menschenrechten. Dass sich der amtierende Fifa-Boss Gianni Infantino an manchen Tagen nach eigenen Worten „homosexuell“ fühlt – und mit diesem Satz die berechtigte Kritik der Weltöffentlichkeit an der mittelalterlichen Gesetzgebung des autokratisch regierten Wüsten-Emirats verächtlich machte –, zeigt nur, wie zynisch und verkommen der Weltfußball und seine Strukturen inzwischen sind. Alles mehr als gute Gründe, die Fifa und ihre Katar-WM zu kritisieren.
Was der DFB und viele Politiker dann auch engagiert und medienwirksam taten.
Fußball-WM in Katar: Die Schuld am Binden-Gate liegt nicht bei der Fifa, sondern beim DFB selbst
Leider hat die ganze Sache den einen oder anderen Schönheitsfehler. Nehmen wir den Binden-Skandal. Wir erinnern uns: Kapitän Manuel Neuer wurde vor dem ersten Spiel der deutschen Mannschaft von der Fifa untersagt, mit der sogenannten „One Love“-Binde aufzulaufen. Die Verantwortlichen des DFB schäumten, drohten mit Klage gegen den Weltverband und brachten sogar den Austritt aus der Fifa ins Gespräch. DFB-Präsident Bernd Neuendorf sprach hier wütend von einem „beispiellosen Vorgang“. Medien und Politiker stimmten sogleich in den Chor der Empörten ein. Es sei ein „moralisches Armutszeugnis für die FIFA“, schrieb SPD-Landeschef Andreas Stoch auf Twitter, dass Fußballer, die ein Zeichen für Gleichberechtigung setzen wollten, aus Angst vor Sanktionen nun davon abrücken müssten. Gut gebrüllt, Löwen. Wie die Süddeutsche Zeitung allerdings recherchierte, liegt die Schuld am Binden-Gate nicht in erster Linie bei der Fifa, sondern beim DFB selbst. Dieser hatte nämlich versäumt, die One-Love-Binde im Vorfeld bei der Fifa anzumelden. Klassischer Formfehler also.
Deutschland setzt Zeichen. Ob mit einer One-Love-bebindeten Innenministerin Faeser auf der Zuschauertribüne oder mit guten Ratschlägen unseres Wirtschaftsministers Habeck, der Kapitän Neuer empfahl, doch trotz angedrohter Sanktionen die Menschenrechtsbinde zu tragen. Unvergessen allerdings das Foto, das den Grünen-Politiker in tiefer Verbeugung vor Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani, Minister für Handel und Industrie, zeigt.
Gestern erreichte uns alle die Nachricht, dass deutsche Firmen ab 2026 Gas in größerem Umfang aus Katar beziehen werden. Und zwar für die kommenden 15 Jahre. Die deutsche Doppelmoral ist inzwischen ein Qualitätssiegel, das dem berühmten „Made in Germany“ in nichts nachsteht.
China? Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Reich in der Mitte hat sich – trotz jüngster Russland-Erfahrung – eher noch verstärkt. Gerade erst wurden Teile des Hamburger Hafens (trotz heftigster Warnungen) an eine chinesische (Staats-)Firma verkauft. Die Volksrepublik China ist längst Deutschlands wichtigster Handelspartner. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts ist nahezu jedes zweite Unternehmen (46 Prozent), das Rohstoffe oder Produkte weiterverarbeitet, auf China angewiesen. Eine Anhängigkeit, die Deutschland noch teuer zu stehen kommen könnte. Hat sich doch China unter dem allmächtigen Herrscher Xi Jinping, seit 2013 Staatspräsident, von einer autoritär geführten Republik, die sich immer mehr westlichen Werten zu öffnen schien, hin zu einem totalitärem Überwachsungsstaat entwickelt. Menschenrechte werden in China bekanntlich mit Füßen getreten: Todesstrafe, Folter, Umerziehungslager, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Medien- und Internetzensur sowie die Unterdrückung ethnischer Minderheiten in Tibet oder Xinjiang stehen sinnbildlich für ein immer aggressiver auftretendes Regime.
Alles kompliziert. Für einen Doppelmoral-Weltmeister allerdings kein Grund, seine Strategie, Kommunikation und Haltung zu überdenken.
Den Titel als Doppelmoral-Weltmeister wird Deutschland auch nach der Fußball-WM in Katar so schnell keiner streitig machen können
Atomstrom? Ist ja bekanntlich gefährlich. Deshalb werden nach einem Regierungsbeschluss spätestens ab April 2023 alle Atommeiler hierzulande vom Netz gehen. Und dann? Kaufen wir, wenn’s eng wird, den Atomstrom eben bei den Franzosen. Fracking? Die Idee, diese umstrittene Art der Erdgasförderung in Deutschland zu betreiben, wird mehrheitlich von der deutschen Politik abgelehnt. Dennoch bezieht Deutschland Fracking-Gas aus den USA. Erdöl? Hier spielt Saudi-Arabien aktuell noch keine signifikante Rolle für den deutschen Energiebedarf. Noch. Erst im September war Bundeskanzler Scholz in den Golfstaat gereist, um sich mit dem saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zu treffen. Ja genau: mit dem Mann, der seit dem Auftragsmord an dem Journalisten Jamal Khashoggi auch „Blutprinz“ genannt wird. Handshake mit einem Killer? Wenn dafür die deutsche Energiesicherheit gewährleistet ist, kein Problem. Die Liste ließe sich unendlich weiterführen.
Wir sind hier in Deutschland immer ganz schnell dabei, wenn es darum geht, andere Kulturen, Gesellschaften und Regierungen für ihre Überzeugungen und Handlungen zu maßregeln. Unser eigenes Tun steht allerdings häufig im krassen Gegensatz zu unseren vermeintlichen Idealen. Und so dürfte uns auch künftig so schnell keiner den Titel streitig machen können: Deutschland – unangefochtener Doppelmoral-Weltmeister.
Dennoch: Wenn die DFB-Auswahl morgen nach einem Sieg Costa Rica ins Achtelfinale einzieht und dadurch weiter im Spiel bleibt, freue ich mich. Keiner der Akteure in den kurzen Hosen trägt Schuld daran, dass diese WM in einem Unrechtsstaat ausgetragen wird. So kann auch niemand verlangen, dass jetzt ausgerechnet die Spieler dem umstrittenen Turnier moralische Integrität verleihen.
Besser also: Ball am Fuß statt Hand vorm Mund.
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