Es geht ein Gespenst um in Europa. Es ist der Geist der Selbstoptimierung. Kein Wunder, dass inzwischen jedes siebte Buch, das in Deutschland verkauft wird, ein Ratgeber ist. Allein das ist ein Markt mit 1,3 Milliarden Euro Jahresumsatz. Dazu kommen dann noch Podcasts, Lifehacks, Apps, YouTube-Tutorials und Bastelanleitungen aus schwedischen Möbelmärkten.
Das alles sind ja letztlich auch nur Ratgeber in anderem Gewand. Es gibt sie zu jedem Thema, das man sich vorstellen kann: Man erklärt uns nicht nur, wie man sich optimal ernährt, handwerkt oder den besten Sport macht, sondern auch wie wir unsere Kinder erziehen sollen, welche Freunde gut für uns sind oder wie Partnerschaften optimiert werden können.
Offensichtlich gibt es keinen Lebensbereich mehr, in dem die Menschen sich nicht gegenseitig Ratschläge geben würden. Bei einem Rundgang durch den Dschungel der Ratgeber bin ich gar auf ein Werk gestoßen, das die besten 696 Sex-Tipps versammelte. Wenn man bereit ist, diese alle auswendig zu lernen, kann bestimmt nichts mehr schiefgehen im Schlafzimmer.
Es klingt lustig: Es gibt allen Ernstes Leute, die uns weismachen wollen, wir könnten uns sämtliche Krankheiten mit Chlorbleiche aus dem Leib ätzen oder es gäbe beim Gärtnern „21 Pflanzenpersönlichkeiten“. Andere sagen, wir sollten uns wie die Wikinger ernähren und einen gesalzenen halben Schafsschädel essen oder uns bei einem 5000 Kilometer langen Spaziergang durch die Steppe am Ende selbst entdecken. „Ach guck mal, Gisela, da bin ich ja!“
Beim Durchforsten des Ratgeberdschungels habe ich viel gelacht. Zumindest bis mir klar wurde, dass offensichtlich viele daran glauben. Stellt sich Ihnen da – wie mir – nicht auch die Frage, ob uns unser unaufhaltsamer Wunsch, es immer noch ein bisschen besser machen zu wollen, nicht vielmehr in den Abgrund treibt? Hetzt uns dieses Verlangen danach, bessere Turnschuhe, ein dickeres Auto, eine schlankere Taille zu haben, nicht gegen alle anderen Menschen und letztlich auch uns selbst auf?
Ratgeber? Abgelehnt!
Ich sage: Nur gründliche und nachhaltige Erfolglosigkeit bietet einen Ausweg. Denn um uns von der Bevormundung der Leistungsgesellschaft zu befreien, reicht es nicht, die Ratgeber zu ignorieren. Wir müssen ihre Ziele ablehnen und ein möglichst schlechtes Leben führen.
Umarmen Sie Ihren inneren Schweinehund! Werfen Sie Ihren Schrittzähler unter einen fahrenden Segway! Frittieren Sie Ihre Schokoriegel, und überbacken Sie das Ergebnis mit Käse! Tragen Sie statt der Uniformen modischer Eitelkeiten ein Wiesel als Unterhose und einen Duschvorhang als Umhang! Verlassen Sie Ihren Traumpartner, und heiraten Sie einen Granitblock, die sind verlässlicher! In jedem Fall: Überbacken Sie das Ergebnis mit Käse!
Oder lassen Sie das alles, erkennen Sie die generelle Albernheit von Lifestyle-Tipps, und machen Sie es ganz anders – nämlich so und nur so, wie Sie möchten. Ich bin ja kein Ratgeber, im Gegenteil. Nur weil der Griff der Axt auch aus Holz ist, ist sie noch lange kein Baum.
Reich, schön, berühmt? Nein danke
Sie könnten eine völlig ungeahnte Freiheit erlangen, wenn Sie nicht mehr jede Kalorie durchzählten, nicht mehr jeden Schritt zählten, nicht mehr überlegten, ob eine Delfintherapie gegen Mischhaut hilft. Sie wären frei vom Druck, den die Leistungsgesellschaft ständig auf uns ausübt. Wenn Sie sich der ewigen Hatz nach der Perfektion versagen, können Sie plötzlich wieder atmen. Und besser noch: Sie können wieder essen, trinken und schlafen – und zwar mit wem Sie möchten. Auch wenn die Sternzeichen, Schlafrhythmen oder Yoga-Termine nicht zusammenpassen.
Denn wenn Sie sich der ständigen Selbstoptimierung verweigern, werden Sie schnell merken, dass Sie so in Ordnung sind, wie Sie eben sind. Sie können sich plötzlich wieder im Spiegel anschauen statt nur Ihre gephotoshoppte Version auf Instagram. Und es stellt sich ein ganz neues Lebensgefühl ein, wenn Sie Ihren Ist-Zustand akzeptieren, statt einem unerreichbaren Soll-Zustand nachzurennen.
Vergessen Sie Ihre Unzufriedenheit und Ihr schlechtes Gewissen beim Blick auf das Fitness-Armband! Machen Sie sich klar: Sie und ich werden niemals reich werden, wir werden in diesem Leben kein international gefragtes Fotomodell mehr, wir werden nicht berühmt, und wir essen gern mal etwas Ungesundes. Wir werden nicht Heidi Klum, egal, wie wir uns bemühen. Aber ist das nicht ein Segen? Wir werden nur wir selbst.
Goodbye Perfektion, Hello Unvollkommenheit
Es ist an der Zeit, dass wir unsere eigene Ratlosigkeit, unsere Fehlbarkeit und unsere Unfähigkeit annehmen als das, was sie sind: zutiefst menschlich. Wir sind nicht perfekt, wir werden es auch niemals sein – und das ist gut so. Denn wenn wir perfekt wären, dann wären wir vor allem eins: nicht mehr wir selbst.
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