Es war der Tag der Abiturzeugnisse, als meine beste Freundin und ich zum ersten Mal in einen Sexshop stolperten. Die Schule war für immer aus, die große Freiheit lockte, wir waren bereit für alle Abenteuer dieser Welt – oder wenigstens für ein paar Gummipimmel. Kichernd schwenkten wir die fleischfarbenen Dinger, strichen ehrfürchtig über Peitschenzottel, bestaunten essbare Unterwäsche und die eindrucksvolle Porno-Sammlung. Wir Mädchen vom katholischen Gymnasium waren in einer Parallelwelt gelandet, die mit unserem behüteten Leben so gar nichts zu tun hatte. Einer Welt voll von ramschigem Schmuddelkram, aber auch von Männern, die mit gehetztem Blick rein- und mit schwarzer Tüte wieder rauseilten.
Wir fühlten uns wahnsinnig verrucht in diesem Laden. Er hieß: „Beate Uhse“.Dass es ausgerechnet der war, war natürlich kein Zufall. „Beate Uhse“ stand in den frühen 2000ern für alles, was man zum Thema Sex so kaufen konnte, und zwar nicht nur für mich und meine Freundinnen. 98 Prozent aller Deutschen war der Markenname zu diesem Zeitpunkt bekannt – ein Traumumfragewert, erst recht für eine Firma aus dem Erotikbereich. Denn Sexualität, nun ja, wir wissen es alle, ist nichts, das man gern außerhalb der jeweiligen Koje verhandelt. Und auch da nur verhalten. Beate Uhses Läden aber fand man damals in jeder Innenstadt, am besten gleich in der Fußgängerzone.
Sex als Selbstverständlichkeit, das war Teil der Verkaufsstrategie – ausgeheckt von einer der erfolgreichsten Geschäftsfrauen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Beate Rotermund. Als sie Ende der 1940er-Jahre mit ihrem Versandhandel loslegt, hat sie nicht nur eine für eine Frau ihrer Zeit wenig standardgemäße Karriere als Hauptmann der Luftwaffe hinter sich (eine Episode übrigens, zu der sie sich später nur spärlich äußern wird). Sie ist auch bereits verwitwet. Ihr Mann, ihr ehemaliger Fluglehrer, hat ihr einen kleinen Sohn hinterlassen.
Und den Nachnamen, der später so berühmt werden soll: Uhse. Die Nachkriegsjahre sind hart, jeder muss sehen, wo er bleibt. Auch Beate schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch, bis sie einen besonderen Bedarf erkennt: Waren im Nazi-Reich zahlreiche Kinder noch ausdrücklich erwünscht, plagen sich jetzt viele Frauen mit der Angst vor Schwangerschaft. Als Tochter einer Ärztin (auch das ist eine Ausnahme zu dieser Zeit) kennt Beate eine natürliche Gegenmaßnahme: die Knaus-Ogino-Methode, mit der sich die fruchtbaren Tage halbwegs zuverlässig ausrechnen lassen.
Wie genau das funktioniert, fasst sie in ihrer berühmten „Schrift X“ zusammen. Davon lässt sie 2000 Exemplare drucken, dazu 10.000 Postwurfsendungen, die auf gut Glück verteilt werden. Bald trudeln die ersten Bestellungen ein, das Geschäft läuft an. An ihrer Seite ist da schon ihr künftiger Ehemann Ewe Rotermund, ein alleinerziehender Vater von zwei Kindern. Zusammen bilden sie nicht nur eine bunte Patchwork-Truppe, sondern leben auch sonst ein unkonventionelles Familienmodell: Ewe, der reichlich Erfahrung im Versandhandel mitbringt, berät Beate zwar in Geschäftsdingen, kümmert sich aber vor allem um Haushalt und Kinder. Bald kommt auch ein gemeinsamer Sohn auf die Welt, ungeplant. Hundertpro verlassen kann man sich auf die Knaus-Ogino-Methode zwar leider doch nicht, aber gemeinsam schaukeln Beate und Ewe das Kind scheinbar mühelos.
Privat wie beruflich.Im ersten Jahr verkauft Beate bereits 132.000 Exemplare der „Schrift X“. Aber die Kundinnen wollen mehr über Sex wissen, und sie wollen Kondome. Also besorgt Beate über den Großhandel Präservative, die sie weiterverkauft, und verfasst weitere Broschüren rund um das Thema „Ehehygiene“. Das Geschäft expandiert – gegen jeden Widerstand von außen. Immer wieder stehen Gerichtsverfahren ins Haus, allein in den ersten zehn Jahren sind es 25. Von „unzüchtigen Schriften“ und Gegenständen ist da die Rede, von „Sitte- und Anstandsverletzungen“, und nicht zuletzt spielt auch Beates Geschlecht eine Rolle. Gerade sie als Frau hätte mehr Schamgefühl besitzen sollen, befindet ein Gericht. So sind sie eben, die Nachkriegsjahre, prüde und patriarchal bis zum Anschlag. Dagegen gilt es etwas zu unternehmen. Und wenn sich damit Geld verdienen lässt – umso besser.
Das mit dem Geldverdienen hat Beate auch wirklich raus. Während ihre wenigen Konkurrenten nach und nach schlappmachen, gewinnt sie immer mehr Kundinnen. Der zärtlich-poetische Ton ihrer Broschüren und ihr Credo, dass guter Sex die Ehe erhalte, macht sie beliebt, vor allem bei Frauen. Und dann noch diese von ihr propagierte Idee, sowohl Männer als auch Frauen hätten ein Recht auf Orgasmus: heute normal, damals fast schon revolutionär. Geschenkt, dass man die dafür angeblich nötigen Noppenkondome, Tropfen, Spitzenhöschen und andere Gerätschaften gleich bei ihr bestellen kann. Was zählt, ist das Gefühl, ernst genommen und gut beraten zu sein.
Und zwar von einer echten Frau, die die Sorgen und Nöte ihrer Geschlechtsgenossinnen kennt. In „Beate Uhse – Ein Leben gegen Tabus“ vergleicht ihre Biografin Katrin Rönicke Beates Personifikation mit der Firma und ihre Einbindung der Familie mit dem, was unsere modernen Influencer machen. Fürs professionelle Storytelling lässt Beate sogar ein Pressebüro einrichten; dort entsteht etwas, das Rönicke die „Beate-Uhse-Story“ nennt: „Ziel war (...), Beate Uhse als das Beispiel für die bundesdeutsche sexuelle Revolution darzustellen.“ Mission completed. Tatsächlich bricht Beate Tabu um Tabu, sei es mit Bildbänden über lesbische Liebe, Sex zu viert oder der Forderung nach weiblichem „Genitalstolz“ und einem Plädoyer fürs „Intimküssen“.
Auch dass die „Sexwelle“ in den 60ern an Wucht gewinnt, spielt ihr in die Hände. Aufklärung ist kein Schund mehr, eben-so wenig sexueller Konsum. 1962 kommt das erste Ladengeschäft. Als in den 70er-Jahren die Pornografie legalisiert wird, verlagern sich die Bedürfnisse der Kunden. Bald startet Beate Uhse eigene Porno-Produktionen, Sex-Kinos schießen wie Pilze aus dem Boden. „Heute ist Sex ein Geschäft, nichts anderes. Liebe gehört in eine andere Schublade“, sagt Beate in einem Interview zu Beginn der 80er-Jahre. Vom einfühlsamen Ton des Anfangs ist nichts mehr übrig. Nun geht es um nacktes Fleisch, ums Rammeln und Abspritzen.Die Kundschaft wird primitiver, doch die Geschäfte laufen bombig.
Weder die mediale Schlammschlacht um die Scheidung von Ehemann Ewe noch die Aufteilung des Geschäfts zwischen Beate und den drei Söhnen kann der Firma etwas anhaben. Und auch im Alter von 70 Jahren kommt ein Leben ohne Arbeit für Beate nicht infrage. Als die Mauer fällt, ist sie die Erste, die den Markt in Ostdeutschland für sich entdeckt. Zum 50. Firmenjubiläum 1996 wird in Berlin nicht nur ihr Erotikmuseum eröffnet, sondern auch ihr 60. Laden. Doch nach dem Börsengang drei Jahre später ist alles plötzlich anders: Die Aktie stürzt rapide ab, die Anleger fühlen sich betrogen. Bevor Beate Rotermund im Jahr 2001 stirbt, wird sie zumindest mit Ehrungen für ihr Lebenswerk überhäuft. Bis zur Insolvenz 2017 wird die Firma sich aber nicht mehr erholen.
Der „Beate Uhse“-Laden von damals ist schon seit Jahren geschlossen. Wer heute nach Sex-Toys sucht, wird in cleanen Web-Shops fündig. Pornos muss sowieso niemand mehr kaufen, und Tabus gibt es auch kaum noch. Die Zeiten haben sich verändert. Umso mehr verdient die geniale Geschäftsfrau Beate unsere Bewunderung. Ihre Mission mag vielleicht nicht ganz so altruistisch gewesen sein, wie es ihre „Beate-Uhse-Story“ darstellte. Ihre Tritte in den Hintern der nachkriegs-deutschen Sexualmoral sind da-durch jedoch nicht weniger bahn-brechend. Ich finde sie einfach nur: verdammt großartig.
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