Zwei Stunden vor seinem letzten Match bei der Weltmeisterschaft sitzt Peter Pokorny im Speisesaal seines Hotels über einem Croissant und sieht nicht gut aus. Die Nase läuft, die Augen sind glasig, er räuspert sich immer wieder. Scheint eine Erkältung zu sein. Nein, leicht macht es ihm diese WM-Woche nicht.
Peter fühlte sich schon irgendwie schlapp, als sie losging. Dann, gleich am zweiten Tag des Turniers, begann der Rücken zu schmerzen und war nur dank Tigerbalm, Voltaren und der Überstunden des befreundeten Turnier-Physios zu beruhigen. Die Sache mit den Augen wurde auch nicht besser, ständig schwimmen diese Schwebteilchen in seinem Blickfeld herum. Und jetzt also auch noch Schnupfen und dieses Kratzen im Hals.
„Das wird ein Abenteuer heute“
„Das wird ein Abenteuer heute“, sagt er und blickt eine Weile aus dem Fenster. Draußen biegen sich die Blätter einer Palme, es ist sonnig, aber ungewöhnlich windig an diesem Herbsttag auf Mallorca. Peter trinkt seinen Kaffee aus, schiebt das letzte Stück Croissant in den Mund – er hinterlässt nie etwas auf seinem Teller – und steht auf. „Okay“, sagt er, „holen wir das Werkzeug.“ Dann geht er langsam, den Oberkörper wie immer etwas nach vorn gebeugt, aus dem Saal.
Peter Pokorny ist 81 Jahre alt, und sein Handwerk, seine Leidenschaft und seine Sucht ist das Tennisspielen. Er nennt den Sport seine Droge. Seit einem Dreivierteljahrhundert hängt er an ihr. Er hat sich von ihr durchs Leben tragen lassen, er hat sein Geld mit ihr verdient, und er hat sich mit ihr einen Namen gemacht. So berühmt wie Sampras, Federer, Nadal oder Djokovic ist er nie geworden, aber was die zu viert erreicht haben, hat Peter allein geschafft: die mehrere Dekaden währende Dominanz der Tenniswelt. Jedenfalls in seiner Altersklasse. Mitte der 90er-Jahre, als Sampras alle vom Platz ballerte und Federer noch überlegte, ob das mit dem Profi-Tennis wirklich eine gute Idee ist, gewann Peter seine erste offizielle Senioren-Weltmeisterschaft. Damals in der Altersklasse 50plus. Seitdem hat er mehr als 30 WM-Titel geholt, weit über 100 Turniere gewonnen und so viele Pokale nach Hause gebracht, dass er eines Tages einen Lieferwagen bestellte und sie größtenteils entsorgen ließ.
In welcher Alterskategorie Peter in den vergangenen Jahrzehnten auch angetreten ist, erst 55plus, dann 60plus und in 5-Jahres-Schritten so weiter: Er beherrschte sie. Oft auch die darunter. Peters von der International Tennis Federation (ITF) festgehaltene Statistik zu Beginn der WM auf Mallorca: Von fast 1000 Matches, die er im vergangenen Vierteljahrhundert bei Turnieren gespielt hat, hat er 96 Prozent gewonnen, Weltranglistenplatz eins bei den über 80-Jährigen. Im Einzel und im Doppel.
Wie macht der das? Wie wurde aus jemandem, der als junger Mann ein sehr guter Spieler war, im Alter ein unschlagbarer? Was kann man sich von ihm abschauen? Das sind so die Fragen, die man sich am Anfang der WM-Woche auf Mallorca mit ihm stellt. Am Ende wird man weniger davon verstanden haben, wie man Tennis spielt, als davon, wie das Leben so spielt. Aber beginnen wir von vorn.
Runde der letzten 32
Das „Beach Club“-Hotel in Font de sa Cala auf Mallorca ist eine dieser Ferienanlagen, in denen man zwei Wochen Urlaub machen kann, ohne sie ein einziges Mal zu verlassen. Pools, Bars, Gym, Disco, vier Sterne, elf Tennisplätze. Über dem Hoteleingang begrüßt ein Welcome-Schild die Gäste, die für die Tennis-WM der sogenannten Super Seniors angereist sind. Wer die Lobby betritt, blickt direkt auf eine Reihe großer Tafeln. Darauf sind die Turnierbäume der einzelnen Wettbewerbe gepinnt, die im Lauf der Woche stattfinden. Und davor ist in den ersten Tagen der WM viel los. Ältere Frauen und Männer, fast alle mit gesundem Teint und schlanker Figur, viele in Tennisklamotten, auf denen groß „France“, „Denmark“ oder „Germany“ steht, werfen einen Blick auf die Auslosung, plaudern über ihren nächsten Gegner oder ihren letzten Sieg. In sechs Altersklassen von 65plus bis 90plus treten sie an. Viele kommen aus den USA oder Europa, Hochburgen des Seniorentennis, andere sind aus Australien, der Ukraine oder Brasilien angereist.
Die Brille auf der Nase, steht auch Peter am Tag seines ersten Matches vor einer der Tafeln. Bis auf ein paar Zentimeter ist er an sie herangerückt und studiert noch mal seine Auslosung. Er tritt im Doppel an, im Mixed, und natürlich im Einzel – wo es diesmal sogar spannend werden könnte. Denn aus Chile ist sein großer Konkurrent angereist: Jaime Pinto, Ex-Davis-Cup-Spieler und wohl einziger 82-Jähriger auf dem Planeten, der Peter auf dem Tennisplatz gefährlich werden kann. Außerdem ist er sein Doppel-Partner – da sind die beiden auf Nummer sicher gegangen.
Jetzt ist aber erst mal ein gewisser Herr Pastors aus Deutschland dran, immerhin mal Hamburger Meister. Das Mittelmeer glitzert im Hintergrund, während Peter, weißes Shirt, rote Shorts, Baseballmütze, über den Platz trippelt und seinen norddeutschen Gegner laufen lässt. Mit dem Rückhand-Slice treibt er ihn in die linke Ecke, mit der geraden Vorhand in die rechte, mit den Stopps in die Resignation. Keiner von Peters Schlägen ist hart, aber jeder präzise platziert. Nach sieben Minuten führt er mit 3 : 0. „Das ist der Pokorny“, sagt eine Zuschauerin zu einer anderen. Die nickt nur ein stummes „Ich weiß“. Nach 45 Minuten ist das Match vorbei. 6 : 0, 6 : 0. Allein per Stopp hat Peter rund ein Dutzend Punkte gemacht, etwa so viele wie sein Gegner im ganzen Match.
Achtelfinale
In der Welt des Seniorentennis ist Peter eine kleine Berühmtheit. Wenn er über die Hotelanlage geht, zum Physio, zum Turnierbüro, zum Speisesaal, wird er immer wieder angesprochen; die einen wollen wissen, wie es ihm geht, andere ein Kompliment loswerden, „You are still the best, Mr Pokorny!“ Er bewegt sich routiniert, charmant und selbstbewusst in diesem Kosmos aus Lacoste-Kleidung, Small Talk und wattiger Leichtigkeit. Aber die Welt, in der er aufgewachsen ist, war eine ganz andere.
Peter wurde 1940 in Graz geboren. Er erinnert sich noch an die letzten Kriegstage, an den Rauch von Bomben, an zurückgelassene Gewehre, mit denen sie als Kinder spielten. Sein Vater fiel im Frühjahr 1945, seine Mutter brachte die drei Söhne allein durch, indem sie das Kaminkehrer-Geschäft ihres Mannes fortführte und nebenher beim Fleischer aushalf. „Wir waren als Kinder ganz uns überlassen“, sagt Peter, „also haben wir uns halt irgendwie beschäftigt.“ Er spielt mit den anderen Jungs Fußball und Basketball, geht mit ihnen eislaufen und nebenher ein bisschen in die Schule, am liebsten aber geht er zur Anlage des „Akademischen Tennisvereins“, die keine 50 Meter von zu Hause entfernt liegt. Er sieht Spielern zu, sammelt Bälle für sie auf, und als seine Mutter ihm mit sechs Jahren einen alten Holzschläger schenkt, den sie in einer „Tauschzentrale“ für ein paar ihrer Habseligkeiten ergattert hat, beginnt er, die Tenniswand zu bearbeiten.
„Richtig gute Spieler sah man damals ja nicht im Fernsehen.“
Irgendwann fragt er die Akademiker vom Verein, ob sie eine Ausnahme machen und ein Nichtakademikerkind aufnehmen würden. Sie tun es. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht erkennen sie schon sein Talent. Mit 14 steht Peter im Finale der steirischen Jugendmeisterschaften gegen einen 18-Jährigen. Mit 16 reist er zu seinem ersten internationalen Turnier nach Saarbrücken per Autostopp. Mit 18 setzt ihn der österreichische Verband in einen Zug nach London, wo er seine Heimat beim Jugendturnier in Wimbledon vertreten soll. „Ich spielte zum ersten Mal überhaupt auf Rasen und schied sofort aus, aber ich blieb die ganze Woche da und sah zu. Es war faszinierend, richtig gute Spieler zu beobachten. Die sahst du damals ja nicht im Fernsehen. Ich habe in London den ersten Topspin-Schlag meines Lebens gesehen.“ Peter hat nie einen Trainer. Er lernt durch Zusehen und Ausprobieren. Und er wird immer besser. Unter den jungen Spielern in Österreich ragt er bald heraus, wie er es heute unter den alten auf Mallorca tut.
Sein Achtelfinal-Gegner im „Beach Club“: Bernd Müller, Germany. Ein 80-Jähriger im Körper eines 50-Jährigen, der mit umgedrehtem Baseballcap über den Platz tigert und nach verlorenen Punkten ruft: „Müller! Mann!“ Peter verschlägt anfangs ungewohnt viele Bälle und fasst sich immer wieder an den Rücken. Weniger mit Grandezza als mit mühsamem Ball-im-Spiel-Halten gewinnt er den ersten Satz mit 6 : 3.
Ende der 50er-Jahre, das Abitur in der Tasche, schreibt Peter sich für ein Maschinenbaustudium ein. Aber er weiß schon bald, dass er lieber Sport macht, als in die Uni zu gehen. Im Winter arbeitet er als Skilehrer und schlägt mit Freunden Bälle auf vereisten Parkplätzen, Tennishallen gibt es damals nicht. Im Sommer düst er auf seinem Puch-Motorroller – „bergab fuhr er 80“ – zu Tennisturnieren in ganz Österreich und reist bald auch zum ersten Mal an die Côte d’Azur.
Dort treffen sich ab den frühen 60er-Jahren die besten europäischen Spieler für die ersten Turniere der Saison in Monte Carlo, Nizza, Cannes. Mal schläft Peter im Auto, mal teilt er sich mit anderen ein Zimmer. „Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich das damals finanziert habe, aber irgendwie ging es. Bei den Preisverleihungen hast du dann halt ein paar Salzstangen mehr gegessen.“ Oft verdient er sich etwas Geld mit der Besaitungsmaschine dazu, die er immer dabeihat, selten bekommt er auch ein paar Schilling vom Verband zugeschossen. Egal, Hauptsache, Peter kann dabei sein. „Damals überhaupt nach Monte Carlo zu fahren, das war unglaublich.“ Und es wird noch besser.
„Nein! Müller!“ Die Partie auf Platz 5 läuft jetzt doch klar in Peters Richtung. Vor einer Handvoll Zuschauer führt er nun im zweiten Satz mit 4:0. Mit seinem feinen Händchen macht er mehr Punkte, als er wegen seines unbeweglichen Rückens verliert. Noch ein Stopp, noch ein Lob, Matchball.
1963 wird Peter Teil des österreichischen Davis-Cup-Teams, spielt mit seiner Mannschaft in den folgenden Jahren gegen England, Frankreich, Deutschland. Er tritt in New York bei den US-Open an (auf Einladung natürlich, „so eine Reise war ja unbezahlbar damals“), wird in Wimbledon zum Stammgast (obwohl er stets früh verliert), darf im Stade Roland Garros auf dem Center Court antreten, reist für Turniere nach Israel und Ägypten. Das Tennis eröffnet ihm die Welt. Und er lebt fürs Tennis. Nur tut er das zu einer Zeit, in der sich damit noch kaum Geld verdienen lässt. Schon gar nicht, wenn man zwar gut ist, aber nicht Weltklasse.
„Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich erst mal zu ein paar Ärzten“
Als der Tennissport in den 70er-Jahren zunehmend professionalisiert wird und die Preisgelder steigen, ist Peter Pokorny schon um die 30 – und muss sich etwas einfallen lassen. Zu Hause in Graz stellt er 1972 die zwei ersten Tragluft-Tennishallen der Stadt auf, ein paar Jahre später übernimmt er als Pächter eine ganze Tennisanlage. Peter heiratet, der erste seiner zwei Söhne kommt zur Welt, er spielt noch Turniere, wird in Bremen Deutscher Hallenmeister und erhält mit 4000 D-Mark das höchste Preisgeld seiner Karriere, aber der Fokus in seinem Leben verschiebt sich.
6:3, 6:0 heißt es am Ende gegen den Deutschen Bernd Müller. Als Peter nach dem Match vom Platz schlurft, sagt er: „Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich erst mal zu ein paar Ärzten.“
Viertelfinale
Dinge, die einem nach ein paar Tagen bei den Super Seniors auffallen: Erstens, ihr Tennis sieht nicht nur anders aus (viel Slice, viele Stopps), es klingt auch anders. Kein Stöhnen, keine Flüche, mehr zing, zing! als plop, plop!, weil sie weicher schlagen und weicher bespannen. Zweitens, keiner hier raucht. Keiner. Drittens, es gilt die Faustregel: Je höher das Alter, desto stärker fällt jedes zusätzliche Jahr ins Gewicht. Der Unterschied zwischen einem 65- und einem 70-Jährigen ist kaum zu sehen, der zwischen einem 80- und einem 85-Jährigen ist kaum zu übersehen. Viertens, wenn ein Spieler nicht pünktlich zum Match auftaucht, macht man sich Sorgen. Ernsthafte Sorgen. Klingt makaber, ist aber wahr. Fünftens, Peters Rivale Pinto ist wirklich gut: Bislang hat er alle vom Platz gefegt. Sechstens, je länger das Turnier dauert, desto mehr Spieler müssen aufgeben. Auch Suella Steel, die amerikanische Mixed-Partnerin von Peter, kommt beim Abendessen an seinen Tisch und sagt, sie habe sich am Oberarm verletzt. Fraglich, ob sie weiterspielen kann. Peter empfiehlt Tigerbalm.
Am Morgen vor seinem Viertelfinale gegen einen an beiden Knien und einem Ellbogen bandagierten Italiener namens Giovanni Argentini reibt auch Peter selbst sich damit ein. Vorher hat er schon Dehnübungen gemacht, Voltaren aufgetragen und eine Tablette genommen. Aber jetzt läuft’s. Die tief stehende Morgensonne behindert ihn zwar – „das sind keine Verhältnisse, das ist scheiße“, flucht er einmal –, aber er lässt Argentini mit 6 : 3, 6 : 2 keine Chance. Nach dem Match geht Peter ins Turnier-Büro der ITF und bittet darum, nicht mehr morgens bei derartigen Lichtverhältnissen antreten zu müssen. Der junge ITF- Mitarbeiter sagt, er könne nichts versprechen. Peter sagt, er könne so nicht spielen. Die ergebnislose Diskussion dauert etwa zehn Minuten. Man spielt nicht 60 Jahre Tennis auf Top-Niveau, weil man die Dinge einfach so laufen lässt.
Oben, auf seinem Zimmer, zieht Peter etwas später an diesem Tag Schuhe und Socken aus, legt sich auf sein Bett und streckt die braun gebrannten Beine von sich, nur seine Füße sind ganz weiß. Auf dem Schreibtisch stehen Tuben mit Magnesium und Vitamintabletten, in einer Mappe liegen ein paar Sudokus. Er reißt sie immer aus Zeitschriften raus. „Die tun mir auch gut, ich werd nämlich langsam schon ein bisserl deppert“, sagt er. Aber jetzt ist er zu erschöpft für Sudokus. Jetzt will er erst mal ein bisschen vor dem Fernseher dösen. Es waren anstrengende Tage bislang. Er hat sich ja nicht nur im Einzel durchgebissen. Er hat nebenher noch mit Pinto das Doppelfinale erreicht und mit Suella das Endspiel im Mixed. Mal sehen, ob der Tigerbalm auch bei ihr wirkt.
Halbfinale
Wie wird man wahnsinnig gut in etwas, in dem man lange Zeit nur sehr gut war? Peter sagt: „Weiß ich nicht, ich habe einfach immer weitergemacht.“ In den frühen 80er-Jahren betreibt er seine Tennisanlage in Graz, übernimmt für zwei Jahre den Job als Davis-Cup-Kapitän Österreichs und ist gefordert als Vater. Aber Tennisturniere spielt er weiterhin. Bis er Mitte 40 ist, tritt er noch bei den Herren an, dann, 1986 zum ersten Mal bei einem Wettbewerb, der das Wort „Senioren“ im Namen trägt. Der Veranstalter, ein Freund, lädt ihn ein, bezahlt Hotel und Verpflegung. „Ich weiß noch, wie alt mir die anderen Spieler alle vorkamen“, sagt Peter. Aber es gefällt ihm. Bald darauf beginnt er auch, Punktspiele für die Seniorenteams deutscher Vereine zu spielen, tritt zehn Jahre für Rosenheim an, später für Hamborn. Er wird für die Clubs zu einer Art buchbarem Punktelieferanten: Sie bezahlen ihm die Anreise und eine Aufwandsentschädigung, er liefert dafür Siege.
Zu Hause erweitert er nach und nach das Geschäft mit der Tennisanlage, nimmt Kredite auf, zieht Zäune hoch, walzt Plätze. Unterwegs erweitert er sein Renommee im Tennis, gewinnt Turniere, sichert Aufstiege, erhält Einladungen. Er hat das Glück, eine Frau zu haben, die all das mitmacht, und einen Körper, für den dasselbe gilt. Ein Bandscheibenvorfall mit 60, bisweilen zwickt die Schulter, sonst plagt ihn nichts. Mit Mitte 60 beginnt er, für ein Team aus Palermo zu spielen, später tritt er für eines aus Düsseldorf an, seit zwei Jahren nun für eine Mannschaft aus Frankfurt, dazu die Turniere. „Etwa 13 bis 14 Wochen pro Jahr bin ich heute noch unterwegs“, sagt er. Ein bisschen ist es wie früher, nur dass er jetzt meist gewinnt und sich nicht mehr von Salzstangen ernähren muss.
Seinen Halbfinal-Gegner Giancarlo Milesi kennt Peter noch aus Palermo, sie spielten im selben Team. Fieser Aufschlag, guter Rückhand-Slice. Nichts davon braucht der Italiener anfangs. Denn Peter macht Fehler um Fehler. Schnell führt Milesi 3:0. Einige Zuschauer wittern schon eine kleine Sensation. Peter habe abgebaut, sagt einer, seine Reaktionen seien so langsam geworden. Beim Seitenwechsel träufelt Peter sich Wasser auf den Zeigefinger und wischt damit über die Augen. Er sieht schlecht, er bewegt sich schlecht. Aber er bleibt ruhig. Und irgendwie kommt er zurück. Mit 7 : 5 holt er sich den ersten Satz, mit 6 : 4 den zweiten. Fünf Matchbälle braucht er am Schluss. Es ist ein Kampf für ihn heute.
Während sich die Turnierbäume auf den Tafeln im Foyer mit Ergebnissen und Namen füllen, wird der Saal, in dem sie stehen, gegen Ende der Woche immer leerer. Am Mittwoch war noch „Players Night“, in der Bar wurde zu Abba getanzt, aber nun, am Freitag, sind viele Spieler schon abgereist.
Möglich, dass es an der Ende-der-Party-Stimmung liegt, die langsam aufkommt, vielleicht auch an der Erkältung, die sich ankündigt, jedenfalls ist Peters Stimmung beim Abendessen vor dem Finale eher gedämpft. Einen Titel hat er schon gewonnen, den mit Pinto im Doppel. Morgen können in Einzel und Mixed zwei dazukommen. Aber statt lange über Taktik („Habe ich nicht, ich spiele instinktiv“) oder seine Erfolgschancen zu sprechen („Sehen wir dann schon“), erzählt Peter lieber von seinem rumänischen Freund Titus Mihalache. Jahrelang haben sie zusammen Doppel gespielt. Ein witziger, lebensfroher Mann. Im vergangenen Jahr ist er gestorben. Er vermisse ihn, sagt Peter und nippt an einem Glas Rosé. Aber so sei das in diesem Alter, „es kann schnell gehen“.
Ob er plane, zur nächsten Super-Seniors-WM zu reisen, die im kommenden Jahr in Florida stattfindet? „So weit fliege ich nicht mehr.“ Aber unterwegs sein werde er schon, falls die Pandemie ihn lässt. Deutschland, Frankreich, vielleicht Türkei. Wenn er einen Tag lang nicht Tennis spiele, fehle ihm etwas, sagt er. Wenn er zu lange zu Hause sitzt, auch. Irgendwann vor einem Dreivierteljahrhundert hat Peter Pokorny einen Weg gefunden, glücklich zu sein. Er war klug genug, ihn im Großen und Ganzen nicht mehr zu verlassen.
Finale
Da steht er also: Jaime Pinto aus Chile, Nummer zwei der Welt, 11.000 Kilometer weit angereist, nicht nur, aber schon auch für das heutige Duell. Bei ihren gemeinsamen Doppel-Partien haben Peter und er wenig mehr als das Nötigste gesprochen, obwohl sie einander durchaus mögen. Jetzt plaudern sie munter, als der Schiedsrichter die Münze für die Platzwahl hochwirft. Zum ersten Mal begegnet sind sich die beiden schon bei einigen Turnieren in den 60ern, zum ersten Mal duelliert haben sie sich aber erst vor fünf Jahren. Da spielte Pinto erstmals bei der Senioren-WM mit. Seitdem trafen sie viermal aufeinander, einmal siegte Peter, dreimal gewann Pinto, immer war es eng. Heute wird es das nicht.
Nach 20 Minuten hat Peter den ersten Satz mit 0:6 verloren. Im zweiten flüchtet er sich in Humor: Beim ersten Punkt nach langer Zeit ballt er ironisch die Becker-Faust, als ein Zuschauer ihm anfeuernd zuruft, „Komm, Peter!“, antwortet er: „Wohin?“ Tempo, Kraft, Präzision, er ist Pinto heute in allen Belangen unterlegen. Nach nicht mal einer Stunde ist es vorbei. 0:6, 3:6. Shakehands am Netz, Erinnerungsfoto, das war’s.
„Zwei Titel, ein Finale. Soll ich mich da beschweren?“
Ein paar Stunden später bei der Siegerehrung sagt Peter Pokorny: „Keine Ausreden, er war der Bessere.“ Seine Nase läuft noch immer, aber er wirkt munter und heiter. Vielleicht ist er einfach froh, dass alles vorbei ist. Vielleicht ist er für einen Mann mit 96 Prozent Siegquote einfach ein erstaunlich guter Verlierer. Vielleicht tröstet ihn auch, dass er mit Suella noch den Mixed-Titel geholt hat: Sie hatte zwar weiterhin Schmerzen, aber die Finalgegner hatten offenbar noch größere – sie traten gar nicht erst an. Manchmal ist es im Tennis wie im Leben: Oft reicht es schon, nicht aufzugeben. Und das meiste ist eine Frage der Perspektive. „Zwei Titel, ein Finale“, sagt Peter am Ende dieser WM, „soll ich mich da beschweren?“
Zwei Wochen später. Peter ist zu Hause in Graz, als er ans Telefon geht. Der Grund für den Anruf bei ihm: Ein paar Stunden Wühlerei in seiner WM-Statistik haben ergeben, dass er nun insgesamt 42 WM-Titel geholt hat. So viele wie sonst nur der legendäre Kanadier Lorne Main. Und der ist 2019 gestorben. Peter mag auf Mallorca also ein Finale verloren haben, aber seinen Status als ewige Nummer eins hat er gefestigt. Als er das am Telefon erfährt, sagt er: „Aha, na ja, den einen Titel hole ich auch noch.“ Dann legt er auf. Er schaut im Fernsehen gerade Tennis.
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