Text & Fotos: Christoph Otto
Am Ende geht es hart zur Sache: Ausfall des Haupttriebwerks! Auf dem Monitor des Kontrollraums sieht man, wie sich die Augen der drei Raumfahrer in der Sojus-Transportkapsel weiten.
Überlebenstraining
Rechts in der Sojus, mit der sie am 6. Juni zur Internationalen Raumstation (ISS) starten und im Dezember zurückkehren sollen, ist die amerikanische Nasa-Astronautin Serena Auñón-Chancellor festgegurtet, in der Mitte der russische Kosmonaut Sergej Prokopjew, links der Deutsche Alexander Gerst. Soeben hat ihr kleines Raumschiff in der Simulation von der ISS abgedockt, 400 Kilometer über der Erde. Sie üben den Rückflug. Jetzt muss die Sojus per Gegenschub aus dem Triebwerk bremsen und ihre Umlaufbahn-Geschwindigkeit von 28000 km/h drastisch drosseln. Ist sie zu schnell und in zu flachem Winkel zur Atmosphäre unterwegs, verpasst sie leicht den Wiedereintritt und donnert auf Nimmerwiedersehen ins All hinaus.
Sechs aufgerissene Augen suchen eine Überlebenslösung. Die Blicke wandern. Sergej Prokopjew schlägt das Bordbuch auf, liest kurz und drückt dann mit einer unterarmlangen Metallstange einen Knopf an der Kommandokonsole. Das Ersatztriebwerk springt an! Die Sojus bremst. Sie sind gerettet. „Miaki possadki – wir wünschen euch eine weiche Landung“, funkt die Bodenstation, die sich im Nebenraum des Simulators am Kosmonauten-Trainingszentrum Juri Gagarin befindet, einem Teil des legendären Sternenstädtchens der Weltraumagentur Roscosmos bei Moskau.
Zwölf schlimme Probleme – vom Triebwerks- bis zum Funkausfall – lösen die drei Raumfahrer hier heute, bevor sie nach drei Stunden verschwitzt aus der engen Kapsel klettern, die in Form und Größe an einen Altglascontainer erinnert. Die schwierigsten aller Raumfahrer-Aufgaben, gespickt mit lauter Fast-Katastrophen: So sieht das tägliche Trainingspensum in den letzten Monaten vor dem Start ins All aus. Eine Herausforderung auch für den deutschen Astronauten Alexander Gerst, obwohl er in der Sojus nur Sergej Prokopjews Co-Pilot ist.
Meilenstein im Universum
Nach russischem Gesetz dürfen nur Angehörige der Russischen Föderation eine Sojus fliegen. In der Internationalen Raumstation aber wird Gerst bald der Commander sein. Als erster Deutscher leitet der 42-Jährige von August bis Dezember eine ISS-Mission. „Horizons“ heißt sie. Dann ist er verantwortlich für die komplexeste Maschine, die je von Menschenhand gebaut wurde – mehr als 120 Milliarden Euro teuer – und für einige Hundert wissenschaftliche „Horizons“-Experimente, von der Krebszellenforschung bis zur Beobachtung des Hochatmosphärenwetters. Das Wichtigste aber: Käptn Gerst ist verantwortlich für das Leben seiner Crew. Ein wichtiger Schritt in seiner Karriere, deren nächste Ziele der Mond und der Mars sein sollen.
Gerst wischt sich den Schweiß von der Stirn. Erklärt der US-Kollegin Auñón-Chancellor auf Englisch einen Handgriff an den blauen Riemen ihres Raumanzugs Sokol KV2, wechselt dann ein paar russische Sätze mit Sojus-Trainingsleiter Wladimir Ossokin, der dem Dreierteam die Bestnote Fünf gibt, dann wendet er sich an mich, den deutschen Journalisten, der ihn seit der Vorbereitung auf seine erste ISS-Mission 2014 immer wieder zum Training begleiten darf. War’s hart in der Sojus? „Das ist das Schwierigste überhaupt“, sagt Gerst und atmet hörbar aus, „so komplex, wenn da was schiefgeht, müssen Sergej und ich das wirklich zu zweit fliegen.“
Es ist eine von Alexander Gersts großen Begabungen, sich selbst und kosmische Probleme so simpel auszudrücken, dass jedermann ihn gut zu kennen und seine Arbeit zu verstehen glaubt. Ein Kumpel als Kapitän. „Ein Freund“, sagen die Kollegen. Nicht zuletzt das hat ihm den Chefposten im All beschert – sowie manche Auszeichnung. Im Dezember letzten Jahres war es die Urania-Medaille. Und wer ihn kennt, der weiß: Fürs entspannte Parlieren im schwarzen Anzug auf der Festsaal-Bühne in Berlin musste Geophysiker Dr. Alexander Gerst aus Künzelsau in Ostfranken keine Sekunde trainieren. Für seine Auftritte im Raumanzug im Orbit hingegen hart, seit ihn die Esa 2009 als ersten Deutschen – neben fünf aus 8413 weiteren internationalen Bewerbern – ins Astronautencorps aufnahm.
"Das geht schon"
Doch auch eigene Mühen spielt Gerst gern herunter. „Ich lerne, wie man ein Raumschiff fliegt, das ist eine Herausforderung, so wird mir nicht langweilig“, kommentiert er sein mehr als einjähriges Sojus-Training. Und wenn ihm angesichts des eigenen Aufstiegs doch mal die Frage „Ist das nicht vielleicht eine Nummer zu groß für mich?“ kommt, wartet er einfach die nächste Prüfungsnote ab. „Ich muss dann immer grinsen, weil ich denke: Nee, das geht schon.“
Allein an seinem Äußeren lässt sich ablesen, dass all seine Leichtigkeit schwer erarbeitet ist. Der Wissenschaftler mit den Pausbacken und dem schütteren Haar, der sich vor zehn Jahren bei der Esa bewarb, ist heute ein durchtrainierter Mann mit markanter Glatze, der selbst den natürlichen Muskelschwund in der Schwerelosigkeit besiegt hat. Während andere Astronauten im Weltall trotz Trainings Muskelmasse verlieren, kam Gerst bereits von seiner ersten ISS-Mission 2014 (Playboy berichtete) muskulöser zurück, als er losgeflogen war.
Allerdings ist seine Fitness kein Selbstzweck wie im Bodybuilding. Gerst braucht die Muskeln wie ein Formel-1- Fahrer: der gewaltigen Kräfte wegen, denen er ausgesetzt ist. Das zeigt die nächste Trainingseinheit im Kosmonauten-Zentrum: die Zentrifuge ZF-18, mit der sich die Belastbarkeit von Menschen und Materialien im Schleudergang testen lässt. Jedes Kirmes-Fahrgeschäft ist Kinderkram dagegen. Das 305-Tonnen-Monstrum kann seinen 18 Meter langen Arm so schnell rotieren lassen, dass der Druck ihres eigenen Gewichts eine untrainierte Person im Testsitz umbrächte. Schon bei einer sogenannten g-Kraft von 5 bis 6 werden viele ohnmächtig. Gerst übt bei 5 bis 8 g, eine schräg durch die Atmosphäre fallende Sojus-Kapsel zu steuern. Mithilfe eines kastenförmigen Moduls voller Knöpfe, das sich an seinen Brustkorb presst wie ein Autositzgurt bei einer Vollbremsung mit 200 km/h. 8-g-Kraft, das bedeutet: Sein Körpergewicht steigt auf das Achtfache. Ein Monitor zeigt ihn bei diesem Höllenritt. Sein Kopf vibriert, sein Körper zuckt, die Zunge wird nach hinten gedrückt, er kann nur mit Anstrengung atmen.
Der Fall der Fälle
Rund eine Stunde dauere so ein Sojus-Sturzflug, schreibt der kanadische Ex-ISS-Kommandant Chris Hadfield in seinem Buch „Anleitung zur Schwerelosigkeit“, also fast ein Viertel der gesamten Rückreisezeit von der ISS (siehe Kasten unten rechts). Und er fühle sich an „wie 15 Explosionen, gefolgt von einem Autounfall“. Dennoch schafft Gerst im Test eine Landung innerhalb eines 1-Kilometer-Radius vom vorberechneten Ziel. Eine Glanzleistung, die selbst routinierte Piloten bei computergesteuerten Landungen selten hinbekommen.
Man darf also annehmen, dass Gerst als Sojus-Co-Pilot seine Leute wieder sicher zur Erde zurückbringen wird nach Kasachstan, in die Steppe rund um Baikonur, wo Anfang Juni das Abenteuer beginnen soll. Mit 26 Millionen PS wird die Rakete das internationale Trio an Bord dann zur ISS schießen. Auch das ein scharfer Ritt, bis sie eintauchen in den stillen ISS-Orbit und sechs Monate lang mit der Station um den Erdball schweben. Auf sicherer Bahn. Sofern an Bord alles gut geht.
Dafür wird Alexander Gerst als Commander die Verantwortung tragen – was natürlich ebenfalls trainiert sein will. Rund drei Monate vor dem Start treffen wir uns dazu im Johnson Space Center der Nasa in Houston/Texas, wieder. Gerst hat mich hereingebeten in das Modell der ISS in Originalgröße, das hier in der Trainingshalle schwebt. Zusammen mit Sergej Prokopjew und Serena Auñón-Chancellor tut er darin heute etwas, das er sonst nie macht: nichts. Warten. Auf den Notfall. Keine Ahnung, auf welchen. In der ISS könnte zum Beispiel Feuer ausbrechen. Oder ein Meteorit einschlagen. Oder tödliches Ammoniak aus kaputten Kühlleitungen strömen. Hunderte, Tausende Zwischenfälle sind denkbar.
Als Kommandeur muss Gerst jederzeit erkennen, was der jeweilige Alarm bedeutet und wo sich die Crew in der insgesamt 910 Kubikmeter gro- ßen ISS befindet, um sie in Sicherheit zu bringen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. „Da muss ich schnelle Entscheidungen treffen, die die Raumstation retten und unser Leben sichern“, sagt er. „Manche Module sind weniger kritisch als andere. Schlimmstenfalls müssen wir evakuieren. Da müssen wir dann aufpassen, dass wir uns nicht den Weg zum Rettungsvehikel versperren. Als Commander ist es extrem wichtig, dass ich stets den Überblick behalte, auch wenn der Alarm nachts um vier losgeht.“
Amoniak und mexikanische Leckereien
Da plötzlich, 17.45 Uhr Greenwich Mean Time, schrillt er: Ammoniak-Alarm! Die Astronauten ziehen Atemmasken über. Sie wissen, dass ihnen nur wenig Zeit bleibt. Das Gas ist giftig und stark ätzend. Als Erstes schließen sie die Verbindungsluke im Knoten 1, die das amerikanische vom russischen ISS-Modul trennt. Nur im US-Segment sind Versorgungsleitungen mit Ammoniak gekühlt. Im Test wird natürlich nicht mit echtem Gas gearbeitet, doch Gerst hat sofort das richtige Messgerät zur Hand: 300 ppm (parts per million) beträgt der angebliche Ammoniakgehalt der Luft. Die Bodenstation übermittelt ebenfalls Werte. Das Ammoniak aus dem defekten Kühlkreislauf wird kurzerhand ins All abgelassen. Die in der Raumstation verbleibenden Gasreste werden von den Filtern in den Masken der Astronauten gebunden. Die Filter nehmen das Gas auf und machen es unschädlich. Nach etwa einer halben Stunde gibt es Entwarnung: nur noch 7 ppm. Zeit für ein Mittagessen.
Die Starport-Kantine in Gebäude 3 des Johnson Space Center erinnert bis auf ihre riesigen ufoartigen Leuchtstofflampen an eine in die Jahre gekommene Uni-Mensa. Gerst stellt sich einen großen Salatteller zusammen und setzt sich zu Esa-Programm-Manager Eric van der Wal. Ein paar Tische weiter: der deutsche Astronaut Matthias Maurer, der erst 2017 nachgerückt ist ins Esa-Astronautencorps und im Johnson Space Center gerade seine Grundausbildung absolviert. Bekannte Raumfahrt-Gesichter überall. Ein riesiges Familientreffen. Gerst grüßt im Vorbeigehen mal hierhin, mal dahin. Ein Kumpel unter Kumpels. Und am Abend trifft er sich im nahe gelegenen mexikanischen Restaurant sogar mit Journalisten auf ein Bier.
Schließlich wird sich sein Privatleben bald wieder mehrere Monate lang auf Telefonate und Videochats mit dem Rest der Menschheit beschränken – vor allem auf Chats mit seiner Freundin. Kein Vergleich zu dem Bad in der Menge wie in Gaststätten oder der Fußgängerzone in Köln, wo Leute ihn oft erkennen, erzählt Gerst beim Bier. Manche seien dort so aufdringlich, sie versuchten, „einen echten Astronauten auch einfach mal anzufassen“.
Das andere Heimatgefühl
Wahlheimat Rheinland halt – oder wo fühlt sich der Franke Gerst besonders zu Hause? „Wenn man mit der ISS über Köln hinwegfliegt oder irgendeinen Ort sieht, den man kennt: Dieses Heimatgefühl, das hört sich jetzt kitschig an, aber ich muss sagen, das ist unglaublich“, erzählt er. „Das merkt man besonders, wenn man sich darauf vorbereitet, in Kasachstan zu landen. Bisher wäre ich nie auf die Idee gekommen, Kasachstan als meine Heimat anzusehen. Aber von der ISS aus wird der ganze Planet zur Heimat.“ Und so kommt man am Abend unweigerlich zum philosophischen Teil der Reise. Dem politischen Klein-Klein auf dem Erdboden und dem Planeten als großem Ganzen – wenngleich die Erde im Grunde nur eine winzige Steinkugel im Nichts des Alls sei, wie Gerst sagt. „Da oben begreifst du: Wenn es hier unten aus ist, dann war es das, da gibt es nichts mehr. Wir sägen wirklich an dem Ast, auf dem wir sitzen.“
Was ist, von dieser hohen Warte aus betrachtet, schon eine Sojus-Kapsel mit drei Menschen, die am Ende der Mission die richtige Kurve zurück in die Atmosphäre finden muss? Selbst wenn das Haupttriebwerk ausfallen sollte: ein staubkorngroßes Problem bloß, für das Alexander Gerst und seine Kollegen im Notfall die Lösung finden müssen. „Miaki possadki“, wünschen wir ihm am Abend in Houston zum Abschied: eine weiche Landung im Dezember!
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