22. Juni 2018, Flachau, Österreich
Der Ort, an dem Bernd Stange den Grundstein für sein Fußballmärchen legen möchte, sieht aus wie eine Ritterburg in Disneyland. Türmchen, Zinnen und eine goldfarbene Krone zieren die Fassade des Schlosshotels „Lacknerhof“ in den Salzburger Alpen. Im Foyer wünscht eine blumenumrankte Willkommenstafel der syrischen Nationalmannschaft eine „Successful training week.“ Und ein paar Räume weiter, in einer großen leeren Stube sitzt der Mann, der sie leiten soll. Im Trainingsanzug, den er fast immer trägt, tut er etwas, das er in diesen Tagen fast nie tut: Er empfängt Journalisten. „Ich habe eigentlich die Entscheidung gefällt, mich zu verschließen“, sagt Stange, „weil ich keine Lust habe, gleich wieder als politischer Buhmann dazustehen.“ Und das – so viel ist klar – kann schnell geschehen angesichts des Jobs, den er hat.
Bernd Stange, 70, Haarfarbe grau, Sprachfärbung ostdeutsch, ist zum Zeitpunkt dieses Treffens seit fünf Monaten Fußball-Nationaltrainer von Syrien. Das Trainingslager in Österreich ist sein erstes längeres mit dem Team. Stanges Aufgabe: die Mannschaft auf die Asienmeisterschaft im Januar vorbereiten und dort zu einem Erfolg führen. Bekommen hat er diesen Job vermutlich unter anderem aus demselben Grund, aus dem er auch Buhmann-Erfahrung hat: Zwei Jahre lang coachte er einst die Nationalmannschaft des Irak. „Als ‚Saddams Trainer‘ wurde ich damals bezeichnet“, sagt Stange. Er fand das falsch, und es hat ihn verletzt. Und jetzt hat er keine Lust, mit Journalisten den Vorwurf zu diskutieren, er sei der Trainer von Assad.
„Ich bin Fußballtrainer“, sagt Stange und presst seine Hände auf den Tisch, als wolle er dem Satz Nachdruck verleihen. „Nur Fußballtrainer. Ich konzentriere mich allein auf den Sport.“ Aber er ist Nationaltrainer eines Landes, das sich nach sieben Jahren Bürgerkrieg weiterhin in einer so kritischen Lage befindet, dass die syrische Nationalelf dort keine Spiele absolvieren kann. Eines Landes, durch dessen Gesellschaft tiefe Risse gehen, die auch Stanges Mannschaft spalten. Eines Landes, das einen Präsidenten hat, dem Menschenrechtler Kriegsverbrechen vorwerfen und der für viele im Verdacht steht, den Fußball für seine Propaganda zu missbrauchen.
Einfach nur Trainer sein: Geht das als oberster Fußballlehrer in so einem Land? Stange will zumindest, dass es geht. Sich selbst aus der Politik heraushalten und die Politik aus seiner Mannschaft: Das ist sein
Plan im Juni 2018. Ob er aufgeht? Wir haben Stange über ein halbes Jahr hinweg begleitet – neben persönlichen Treffen gab es regelmäßig Telefonate –, um es herauszufinden und Einblick zu bekommen in die Arbeits- und Denkweise eines Mannes, der den vielleicht heikelsten Job des Weltfußballs macht.
Stanges Ziele für die kommenden sieben Monate: Er möchte aus einer Gruppe von Spielern, die im syrischen Bürgerkrieg teilweise auf verfeindeten Seiten standen, die Angehörige verloren und Traumatisches erlebt haben, eine Mannschaft formen, die über sich hinauswächst. Er hofft, dass dieses Team schon bald das erste Länderspiel auf syrischem Boden seit 2010 austragen kann, „daran arbeiten wir bereits im Hintergrund“, sagt er. Und dann möchte er beim Asien-Cup eine Überraschung schaffen: „Als Ziel haben wir angegeben: Gruppenphase überstehen. Aber wir rechnen uns was aus. Mir ist wichtig, dass jeder im Team weiß: Wir wollen um was spielen, wir wollen einen Cup hochhalten.“ Für Stange selbst wäre das die Krönung – und vielleicht auch der Schlusspunkt einer langen Karriere. Aber ihm geht es auch um etwas Größeres: Er will dem syrischen Volk einen Grund zur Freude geben, ihm mit einem fußballerischen Erfolg dabei helfen, wieder auf die Beine zu kommen. So wie das Wunder von Bern den Deutschen geholfen hat? „Super, genau.“ Stange mag diesen Vergleich. Im Grunde ist vielleicht genau das seine Mission: das Wunder von Bernd.
30. Juni, Salzburg, Österreich
Die Ränge des kleinen Stadions des SV Grödig sind fast leer, nur ein paar Dutzend Zuschauer sind gekommen, um sich das Testspiel der syrischen Nationalelf gegen den aserbaidschanischen Serienmeister
Qarabag Agdam anzusehen. Zur Halbzeit steht es 1:0 für Syrien, die Spieler sind in der Kabine, es läuft „Seven Nation Army“. Da stürmt Fadi Dabbas, Präsident des syrischen Fußballbunds und bekennender Assad-Anhänger, aus den Katakomben in Richtung der Tribüne, wo ein bekannter syrischer Oppositioneller steht, der mittlerweile in Österreich lebt. Es folgt ein Wortgefecht, ein Kaffeebecher fliegt. Schließlich schreitet die Polizei ein.
Wenige Minuten später tritt Bernd Stange aus den Katakomben und wirkt, als hätte er von all dem nichts mitbekommen. Er blickt sich um, setzt sich auf die Trainerbank. Der Schiedsrichter pfeift die zweite Halbzeit an. Fußballtrainer. Nur Fußballtrainer. Stanges Team gewinnt 1:0.
Es gibt eine Frage, die die syrische Nationalmannschaft begleitet, wohin sie sich auch begibt: Repräsentiert diese Mannschaft ganz Syrien, oder repräsentiert sie vor allem Assads Regime?
Als das Team im Herbst 2017 nur knapp an der Qualifikation zur WM in Russland scheitert, sorgen die starken Auftritte der Mannschaft nicht nur auf den Straßen von Damaskus für Jubel, sondern auch in den Rebellengebieten und in den Flüchtlingslagern außerhalb des Landes. Der Fußball scheint Assad-Loyale wie Assad-Gegner stolz und glücklich zu machen, sie zumindest für ein paar Momente im Jubel zu vereinen.
Dann aber kommt der Auftritt mit Assad. Syriens Präsident empfängt das Team feierlich in seinem Palast, Handschläge, Fotos und eine Rede, für die Assad das Team hinter sich gruppiert. Man kann sie sich auf YouTube ansehen. Assad lobt darin die herausragende Leistung der Mannschaft. Sie basiere auf der noch größeren Leistung der syrischen Armee, sagt Assad. Und dann: „Ich bin mir sicher, dass unser syrisches Nationalteam, so wie jeder andere syrische Bürger, der etwas erreicht oder versucht, etwas zu erreichen, dies tut als Unterstützung und als komplementäres Element zur Arbeit der syrischen Armee.“
Die syrische Mannschaft als Unterstützer seiner Armee: So sieht es für Assad aus. Und die syrische Mannschaft steht hinter ihm: So sieht es im Video aus. Kann man das alles ausblenden, wenn man der Mann ist, der mal „Saddams Trainer“ genannt wurde?
9. August, Damaskus/München
„Das Leben in Damaskus normalisiert sich“, sagt Stange. „Aber natürlich sind die Folgen des siebenjährigen Krieges unübersehbar.“ Wir sprechen am Telefon mit ihm. Obwohl er anfangs zuversichtlich war, dass wir ihn in Damaskus würden besuchen können, scheint das nun doch nicht möglich zu sein. Der Playboy steht in Syrien auf dem Index, hat Stange erfahren und den Eindruck bekommen, dass ein Besuch von uns nicht allzu dringend erwünscht ist.
Stange wohnt in Damaskus in einer Hotelanlage in den Hügeln etwas außerhalb der Stadt. Pool, Fitness-Center, Wellness-Bereich, Restaurant. „Das Hotel und die Umgebung sind geblockt für die UN“, sagt er, „ein geschütztes Gebiet.“ Er fühlt sich sicher dort, auch wenn er durch das Fenster seiner Suite schon die Explosionen von Raketen gesehen hat. „Das waren Schläge, wie man sie aus Computerspielen kennt, unerträglich, man hat das körperlich gespürt.“
Stange hat einen Fahrer, der ihn zu Liga-Spielen nach Damaskus oder in die vom Krieg kaum betroffene Mittelmeerstadt Latakia fährt, aber auch nach Homs, eine Stadt, die „zur Hälfte zerkloppt ist“, wie er sagt, „das ist Wahnsinn.“ Damaskus aber sei „scheinbar ruhig, das Nationalmuseum hat wiedereröffnet, die ersten Touristen streifen durch die eindrucksvolle Altstadt“.
Stange ist ein anerkannter Fußball-Fachmann, aber für eines ist er nicht bekannt: eine herausragend kritische Haltung gegenüber Diktaturen. Er trainierte von 1983 bis 1988 das Nationalteam der DDR – und war von 1973 bis 1986 als „IM“ für die Stasi tätig. Bekannt ist, dass er als solcher 1984 seinen vermeintlichen Freund Jörg Berger aushorchte, der in den Westen geflohen war.
Als der „Stern“ 1995 eine große Geschichte über Stanges Stasi-Kontakte brachte, arbeitete der als Sportdirektor bei Hertha BSC Berlin. Er trat zurück und ging bald darauf ins Ausland. Stange trainierte Clubs in der Ukraine und Australien, kurzzeitig auch die Nationalmannschaft des Oman und schien in den eher unscheinbaren Ecken des Weltfußballs zu verschwinden, bis er 2002 wieder in den Schlagzeilen auftauchte: Er wurde Nationaltrainer des Irak.
Stange übernahm das Team im November 2002, zu einem Zeitpunkt also, als Saddam Hussein das Land noch regierte, und wurde dafür heftig kritisiert. Als im März 2003 der Irakkrieg begann, verließ Stange das Land, kehrte aber nur wenige Monate später – die heißeste Phase des Krieges war vorbei – wieder zurück, um seine Arbeit fortzuführen. Im August absolvierte das Team bereits wieder ein Länderspiel, im Oktober qualifizierte es sich für den Asien-Cup, und im Dezember des Jahres stand Stange bei einer Gala in Basel auf der Bühne und erhielt von Sepp Blatter den FIFA Presidential Award für seine Verdienste um den Fußball in dem vom Krieg zerrütteten Land. Innerhalb von 13 Monaten war er von „Saddams Trainer“ zu einem Helden des Weltfußballs geworden. Für Stange war das die Bestätigung, dass er alles richtig gemacht hatte.
Vielleicht dachte er auch deshalb nicht lange nach, als Ende 2017 – er hatte mittlerweile auch unter anderem die Nationalteams Weißrusslands sowie zuletzt Singapurs trainiert – die Anfrage des syrischen Fußballverbands aus dem Faxgerät in seinem Haus in Jena geruckelt kam. Die Syrer wollten ihn als Coach – und Stange, seit einem Jahr zu Hause, unruhig, von der Gartenarbeit gelangweilt, wollte einen neuen Job.
Er besprach sich mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen. Dann fragte er nach eigener Darstellung beim DFB und der FIFA nach, ob etwas dagegenspräche, dass er das Engagement annimmt, und es gab keine Einwände. Im Januar unterschrieb er den Vertrag, befristet bis zum Ende des Asien-Cups.
Nun spielt sich sein Leben zwischen Damaskus, Jena und den Orten ab, an denen seine Mannschaft Testspiele absolviert. „Geplant sind in den kommenden Monaten Usbekistan, Kirgistan und Bahrain“, sagt er am Telefon. Und dann hat er noch einen wichtigen Termin in London. „Da findet im September eine FIFA-Gala statt. Vielleicht kann ich dort mit Infantino sprechen.“ Er will sich bei FIFA-Präsident Gianni Infantino dafür einsetzen, dass im November 2018 das erste Länderspiel auf syrischem Boden stattfinden kann. Es wäre das erste seit Dezember 2010 gewesen.
24. September, London/München
Luka Modric, Kylian Mbappé, Mo Salah: Die Fifa hat zur Ehrung des Weltfußballers des Jahres in die Royal Festival Hall geladen, und all die Stars des Sports sind in der Stadt. Auch Stange ist dafür angereist.
Weil er seit seinem Award quasi zur Familie gehört und weil er tatsächlich mit Infantino verabredet ist, 15 Minuten, im Hotel, unter vier Augen.
„Wir hatten ein sehr gutes, intensives Gespräch“, sagt er später über das Treffen. „Er war schon von unserem Verbandspräsidenten über unsere Bemühungen informiert, aber er wollte auch von mir, einer Person, die er kennt, eine Einschätzung hören über die Lage.“ Es klingt ein bisschen Stolz mit, als Stange das sagt. Aber für das Länderspiel sieht es schlecht aus, das wusste Stange schon vor dem Gespräch. Die Anforderungen der Fifa sind hoch: Mediencenter, Hotels, funktionierender Flughafen in der Nähe – und natürlich muss die Sicherheit gewährleistet sein. Das ist für die Syrer nicht zu schaffen. In Latakia, wo das Länderspiel stattfinden sollte, schlugen eine Woche vor dem Meeting zwischen Stange und Infantino israelische Raketen ein. Infolge des Angriffs starben 15 Menschen. Stanges Fazit: „Wir müssen die Checkliste der Fifa abarbeiten, und das wird unter meiner Leitung nicht mehr passieren. Also ich glaube auch nicht an Frühjahr 2019. Ich glaube eher an Herbst 2019.“
Immerhin. Er hat es versucht. Ein Länderspiel in Syrien: Es wäre ein Grund zum Feiern und ein Ereignis mit großer Symbolwirkung gewesen für das syrische Volk.
Und natürlich für Assad.
10. Oktober, Manama, Bahrain
„Herr Stange, was sagen Sie zu dem Vorwurf, Assad benutze den Fußball für seine Propaganda?“
„Der Fußball wird überall von Regierungen vereinnahmt, wenn Erfolg da ist, dann kommen Kanzlerinnen, Präsidenten und Autokraten in die Kabinen oder empfangen die Mannschaften. Wenn du verlierst, bleibst du allein.“
„Würden Sie ihm nach einem Erfolg beim Asien- Cup die Hand geben?“
„Ja, würde ich, wohl wissend, was die Fotos wieder auslösen würden. Als Lothar Matthäus und Weltstars bei Putin empfangen wurden, traten auch wieder kleine Hetzer auf den Plan, die uns sagen wollen, was wir dürfen und was nicht. Die politische Kritik müssen wir einfach ertragen können. Mir reicht die Unterstützung der Fifa und des DFB, um meine Arbeit erfolgreich in Syrien zu Ende zu bringen.“
„Die Argumente der Kritiker gelten für Sie nicht?“
„Die Leute müssen mal begreifen, wie groß und verbindend der Fußball ist, indem er Kinder von der Straße holt, aus den Trümmern, indem er sie erzieht, in Vereinen zusammenbringt. Die Vorteile des Fußballs überwiegen bei Weitem das Ärgernis, dass er eben immer wieder auch benutzt wird, um, sagen wir mal, politische Botschaften zu transportieren.“
Stange sitzt in einer Hotelsuite im winzigen Golfstaat Bahrain, als er diese Sätze sagt, fünfter Stock, Blick auf eine Meereslagune und die Hochhäuser der Hauptstadt Manama. Er und sein Team sind für ein Testspiel angereist. Und nun, drei Monate vor dem Asien-Cup, ist die Politik doch ein Thema für ihn geworden. Im Gespräch mit uns – und bei seiner Arbeit mit der Mannschaft.
Innerhalb des Teams sind Dinge passiert, die er nicht erwartet hat. Es gab einen Konflikt zwischen zwei Spielern. Der eine ist Profi in Damaskus, glühender Assad-Anhänger, Liebling der Fans in der Hauptstadt. Der andere ist der Superstar des Teams: Omar Al-Soma. Er hat sich 2012 als Anhänger der Opposition geoutet, ist nach Kuwait und später nach Saudi-Arabien gewechselt, wo er heute sehr gut verdient, und hat die Nationalmannschaft fünf Jahre lang boykottiert. 2017 kehrte er zum Team zurück – und führt es nun als Kapitän auf den Platz. Letzteres missfiel dem Assad-treuen Spieler aus Damaskus.
„Streitereien gibt es in vielen Mannschaften“, sagt Stange, „aber hier ist ein Krieg dahinter, verlorene Menschenleben, Traumata und Verletzungen, die tiefer sitzen als eine Beleidigung. Das sind Wunden, und die Wunden muss man schließen, das ist ein schwerer, schwerer Job.“
Er wird dadurch nicht leichter, dass nicht ganz klar ist, aus welchen Gründen Superstar Omar Al-Soma und der andere große Star des syrischen Fußballs, Firas Al-Kathib, die sich im Bürgerkrieg auf die Seite der Opposition stellten, wieder zur syrischen Nationalmannschaft zurückgekehrt sind.
In einer Reportage des US-Senders ESPN wurde 2017 der Vorwurf laut, manche Spieler würden unter Druck gesetzt, damit sie für das Nationalteam spielen. Al-Soma selbst äußert sich nicht zu dem Thema.
Al-Kathib, der ebenfalls nach einem fünfjährigen Boykott ins Nationalteam zurückkehrte, sagte ESPN: „Es ist sehr kompliziert. Ich möchte mehr sagen, aber ich kann es nicht. Es ist besser so für mich, mein Land, meine Familie, für alle, wenn ich nicht rede.“
Was sagt Stange zu dem Vorwurf? „Kompletter Blödsinn, das geht gar nicht im Fußball, und auf so dumme Unterstellungen brauche ich auch nicht zu antworten. Das ist übler Journalismus von Fußballblinden! Aber wissen Sie, was, ich frage meine Spieler. Ich sage: ,In einer Reportage heißt es, Spieler würden unter Druck gesetzt, für das Nationalteam zu spielen: Gibt’s das?‘ Genau das frage ich die Jungs.“
Am nächsten Abend tritt Stanges Team im Nationalstadion von Bahrain gegen den Gastgeber an. Wieder ist das Stadion leer, aber ein paar Hundert Syrer, die meisten von ihnen aus Saudi-Arabien angereist, feiern ihre Mannschaft bei jeder Aktion. Als das 1:0-Siegtor für Syrien fällt, schwenken sie ihre Fahnen. Torschütze mal wieder: Omar Al-Soma.
Und das Ergebnis von Stanges Kabinenumfrage? „Die Spieler haben alle gelacht.“
14. November, Riezlern, Österreich
Nihad Saadeddine, 34 Jahre alt, Baseballcap, Vollbart, sitzt in einer karg möblierten Wohnung im Alpendorf Riezlern und zündet sich eine Zigarette an. Saadeddine ist der Oppositionelle, der bei dem Testspiel in Salzburg auf der Tribüne stand und sich das Wortgefecht mit dem Präsidenten des syrischen Fußballverbands lieferte. Und er ist ein Mann, der nicht lachen kann, wenn es um die Frage geht, ob syrische Fußballspieler von Assads Regime unter Druck gesetzt werden.
Saadeddine war selbst Profi in Syrien. Jugendnationalspieler, kein Star, aber ein bekanntes Gesicht des Sports. Als 2011 die zunächst friedlichen Proteste in Syrien begannen und seine Heimatstadt Homs erfassten, schloss er sich der Opposition an. Gekämpft habe er nicht, sagt er, trotzdem landeten schon bald eine Kugel in seinem Knie und Granatsplitter in seinem Rücken. Er floh in den Libanon, um sich behandeln zu lassen, und entschloss sich dort, seine eigene Form des Kampfes gegen das Regime aufzunehmen: Er gründete die „Nationalmannschaft des freien Syrien“. Das Team um Saadeddine absolvierte Freundschaftsspiele im Libanon, um die Revolution symbolisch zu unterstützen. Schon bald kamen die Anrufe: Geheimdienstmitarbeiter aus Syrien meldeten sich bei ihm. Er solle nach Syrien zurückkehren und sich stellen. Offenbar missfiel jemandem sein Projekt. Als er sich weigerte, habe es geheißen: Okay, dann werden wir dich holen.
Sie holten ihn nicht. Doch Saadeddine war gewarnt. 2015 floh er aus dem Libanon nach Österreich. Mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern lebt er dort nun mit Blick auf ein idyllisches Alpenpanorama und ist mit dem Kopf doch meist in Syrien.
Denkt er, dass aktuelle Nationalspieler unter Druck gesetzt werden, für das Team zu spielen?
Er weiß es nicht. Aber er sagt: „Das Regime hat mit verschiedensten Mitteln versucht, Sportler zurückzuholen.“ Geld als Lockmittel habe dazugehört, oder „die Sache mit den Pässen: Wenn ein Spieler einen
Pass hat, der bald ausläuft, muss er zur Nationalelf zurückkehren, um einen neuen zu kriegen. Die Spieler sehen diese Sachen, wenn sie ihre Entscheidung treffen.“ Saadeddine zählt mehrere Fußballer auf, die früher in seiner Mannschaft des freien Syrien gespielt hätten und mittlerweile zum syrischen Nationalteam zurückgekehrt seien. Der Fußball sei in Syrien von der Politik nicht zu trennen, sagt er. Das zeige sich allein schon darin, dass ein Mann wie Mowafak Joumaa den syrischen Sportbund führe, ein Ex-General der syrischen Armee, der seit 2016 für Assads Baath-Partei im syrischen Parlament sitzt.
Auch die Tatsache, dass das Team einen renommierten deutschen Trainer habe, werde benutzt, um Spieler davon zu überzeugen, für die Nationalmannschaft aufzulaufen, meint Saadeddine. Das von Stange in Österreich organisierte Trainingslager sei daheim in Syrien medial genutzt worden: Seht her, unsere Mannschaft ist überall willkommen! Bei Stanges Engagement geht es aus Saadeddines Sicht auch darum, eine Botschaft zu schicken – nach Deutschland und in die Welt: „In Syrien ist die Gewalt vorbei, es gibt vielleicht noch ein paar Terroristen, aber das Regime hat alles unter Kontrolle.“
11. Dezember, Jena/München
Stange ist zum letzten Mal vor dem Asien-Cup zu Hause in Jena. „Ich bin vor zwei Stunden erst angekommen“, sagt er am Telefon. „Jetzt habe ich erst mal die Sauna im Haus angemacht.“ Er hat nicht viel Zeit. Sein Fazit des zurückliegenden Jahres, um das wir ihn bitten: „Es war eines meiner schwersten Jahre, nur zu vergleichen mit der Zeit im Irak. Aber ich denke, ich habe es ordentlich bewältigt.“
In wenigen Tagen wird Stange nach Damaskus zurückreisen und bald darauf weiter in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo am 6. Januar Syriens erstes Asien- Cup-Spiel gegen Palästina ansteht. Kann es dort tatsächlich für einen großen Erfolg reichen?
„Man muss realistisch sein. Australien, Japan, Südkorea und der Iran haben im Vergleich zu uns die Nase vorn. Aber das muss bei so einem Turnier nichts bedeuten.“ Zumal er, so sieht Stange es, noch ein Ass im Ärmel hat. Und das ist die Botschaft, die Mission seiner Jungs: „dass sie für Syrien spielen, für die kriegsgebeutelten Leute zu Hause, und um zu zeigen, wir sind wieder da. Diese Karte zu spielen, hebe ich mir bis zuletzt auf.“ Bernd Stange glaubt an das Wunder von Bernd.
Die Reportage "Das Wunder von Bernd" stammt aus der Februar-Ausgabe des Playboy (ab dem 10. Januar 2019 am Kiosk). Der Asien-Cup findet vom 5. Januar bis zum 1. Februar 2019 in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt.
UPDATE: Nach einem 0:0 im Auftaktspiel gegen Palästina und einem 0:2 im zweiten Gruppenspiel gegen Jordanien wurde Bernd Stange noch während des Asien-Cups entlassen. Sein Amt übernimmt vorerst Syriens Ex-Nationaltrainer Fajr Ibrahim
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