In der Nacht, die ihn um 40.000 Dollar reicher machen soll, rauben die Schmerzen Sascha Sharma fast den Verstand. Es ist ein Sonntag im August, und der Deutsche kämpft im Finale eines Mixed-Martial-Arts-Turniers in Dresden um seine Zukunft: Ein hochdotierter Zweijahresvertrag mit dem führenden russischen MMA-Verband M-1 winkt - internationaler Ruhm.
Die Scheinwerfer brennen, auf den Rängen fließt das Bier, im Ring der Schweiß, Sharma dominiert. Schon in den Vorkämpfen: kein Gegner, der nicht in seinem Schlaghagel untergegangen wäre. Und auch jetzt, 20 Sekunden vor dem Ende der Finalrunde, liegt der 29-Jährige nach Punkten uneinholbar vorn.
Da reißt sein Kontrahent, der Dresdner Jonny Kruschinske, ihn plötzlich auf die Matte, schnappt sich beidhändig sein rechtes Schienbein und verdreht es per Kniehebel mit aller Kraft. Sharma presst die Zahnreihen gegeneinander, das Innenband seines Knies reißt ein. "Ein höllischer Schmerz", sagt er später
Aus dem Hebel gibt es kein Entkommen. Klopft Sharma jetzt - Sekunden vor dem Schlussgong - ab, verliert er Kampf, Geld und Perspektive. Dreizehn. Zwölf. Elf. Die Uhr tickt.
Der deutsche Reality-Fighter
Zwei Monate später: Die Kirchenglocken in Birkenfeld läuten den Abend ein, als Sascha Sharma seinen schwarzen Ford Mustang hinter einem roten Kleinwagen parkt. Hier, am Rand des Schwarzwalds, hat er im Keller des Elternhauses seine Wohnung. "Diese Karre", sagt Sharma und zeigt lachend auf den verbeulten Ford Fiesta vor sich, "bin ich letztes Jahr noch gefahren."
Der ehemalige Germanistikstudent gehört seit zwei Jahren zu den wenigen deutschen MMA-Profis, die vom Sport leben können. Adidas rüstet ihn aus, Kampfgagen und die Förderung seines Gyms sichern den Unterhalt, Manager Daniel Romic regelt die Geschäfte. Die nationale Rangliste im Leichtgewicht führt Sharma auf Platz drei, doch seine Popularität ist höher einzustufen.
Seit seiner Teilnahme an der amerikanischen Reality-TV-Serie "The Ultimate Fighter", deren Folgen 2015 rund zwei Millionen Zuschauer sahen, erhält Sharma über Facebook Nachrichten aus aller Welt. Vor allem wegen seiner Lebensgeschichte, die Tausende berührt: der Geschichte eines MMA-Stars, der einst an den Rollstuhl gefesselt war. Der als Kind eine schwere Krankheit besiegt hat und seither nicht mehr aufgibt.
Nicht aufgeben!
Zehn. Neun. Acht. Auch im Ring in Dresden darf er nicht aufgeben. Nicht bei diesem Duell, das ihm die Tür zum drittgrößten MMA-Verband der Welt öffnen soll. Eine Chance, sich als internationaler Top-Kämpfer zu etablieren. Die Krönung eines Aufstiegs, der mit einem Schicksalsschlag begann.
Der Tag, als Sascha nicht mehr laufen konnte
Es ist der 7. April 1999, als das Leben des damals elfjährigen Sascha Sharma aus Birkenfeld eine dramatische Wendung nimmt. "Das war der Tag, an dem mein Sohn plötzlich nicht mehr laufen konnte", sagt Ilona Sharma, während sie am Esstisch im Wohnzimmer durch das Familienalbum blättert. Sascha und sein indischer Vater Ashok blicken ihr über die Schulter. Die Aufnahmen zeigen einen pummeligen Jungen im Rollstuhl, umringt von Freunden und seinen beiden jüngeren Schwestern.
Als Sharma an jenem Apriltag ins Krankenhaus kommt, fühlt er sich so schwach, dass ihn sein Vater die letzten Meter zum Eingang tragen muss. "Schon in der Woche davor hatte ich mich unsicher auf den Beinen gefühlt, sie lachten mich auf dem Bolzplatz für meine langsamen Bewegungen aus", erinnert sich Sharma, der sich damals zunächst keine Sorgen macht: "Bis an dem Tag dann gar nichts mehr ging."
Ärzte diagnostizieren bei dem Jungen das Guillain-Barré-Syndrom, eine seltene Nervenkrankheit, die seine Beine lähmt. Bis heute ist unklar, ob eine Angina oder ein Zeckenbiss der Auslöser war. Für Sharma und seine Eltern beginnen Wochen der Ungewissheit. Niemand kann damals versprechen, dass er je wieder laufen, geschweige denn Sport treiben wird.
"Es war ein Albtraum", sagt Ilona Sharma und lässt langsam den Löffel im Kaffee kreisen. "Die Ärzte erklärten, dass ich jeden Tag durch einen Herzstillstand sterben kann", sagt Sascha Sharma. "Es war die schlimmste Zeit meines Lebens."
"Nie wieder schwach sein"
Als Sascha im Mai 1999 zwölf Jahre alt wird, feiert er im Krankenbett so etwas wie seine zweite Geburt: Die Ärzte teilen seinen Eltern mit, dass die Krankheit gestoppt sei. Bereits sechs Wochen und eine Kur später kann ihr Sohn wieder laufen. Und doch hat die Krankheit Sascha Sharma für immer verändert. "Ich schwor mir, dass ich nie wieder so schwach sein will", sagt er.
Aus dem Kind mit den Pausbäckchen, das seine Tage am liebsten im Keller vor dem Computer verbracht hatte, wird in den folgenden Jahren ein besessener Kampfsportler. Im Brazilian Jiu-Jitsu gewinnt Sharma mehrmals die Deutsche Meisterschaft, mit Mitte 20 wechselt er in die Mixed Martial Arts. Anfangs löst das in der Familie viele Diskussionen aus, da seine Eltern ihn lieber als Arzt oder Ingenieur gesehen hätten. "Heute", sagt Ashok Sharma, "sind wir stolz auf Sascha."
Kein Entkommen: Am Boden ist Sascha der Boss
Ein Sonntag im Oktober. Aus einem Hinterhof im Stuttgarter Vorort Fellbach dröhnt HipHop durch die Fenster einer Hochhaus-Etage. Im Kong's Gym liegt Schweiß in der Luft. Sascha Sharma drischt mit einem 10-Kilo-Hammer auf einen Traktorreifen ein, seine Trainingspartner Sylvester Hasny und Till Kinne wuchten Kugelhanteln gen Decke. Die Übungen sind Teil eines Zirkeltrainings, das Kraft und Ausdauer verbessert.
Später stehen noch 18 Runden MMA auf dem Programm, in denen die Kämpfer Wurf- und Schlagtechniken trainieren. Danach lässt sich Sharma am Maschendraht des Kampfkäfigs auf die Matte sinken. Hier, am Boden, ist er gewöhnlich der Boss. Im Clinch auf der Matte, sagt Kinne, gebe es gegen Sharma gewöhnlich kein Entkommen mehr.
Hochkomplexer Sport mit strikten Regeln
Dass am Boden liegende Gegner mit Fäusten und schmerzhaften Griffen traktiert werden, hat in Deutschland immer wieder Kritiker auf den Plan gerufen, die MMA als Sammelbecken frustrierter Kneipenschläger diffamieren. Dabei ist MMA ein hochkomplexer Sport, der Elemente verschiedener Disziplinen wie Boxen, Kickboxen, Judo, Ringen und Jiu-Jitsu vereint.
Sharma trainiert sechsmal wöchentlich vier Stunden mit Spezialisten all dieser Sportarten, leitet im Kong's Gym MMA-Kurse für Erwachsene und Kinder. An die Ressentiments, auf die er mit seinem Sport stößt, hat sich der 29-Jährige gewöhnt. "Dabei ist MMA der ehrlichste Sport der Welt", sagt Sharma. "Wir sind keine Asozialen."
Und tatsächlich ist das Regelwerk bei seriösen Veranstaltungen strikt: Ellenbogen zum Kopf am Boden: erlaubt. Kniestöße zum Kopf am Boden: nicht erlaubt. Fußtritte zum Körper: erlaubt - bis auf die Wirbelsäule. Zudrücken des Kehlkopfs: nicht erlaubt. Schläge auf die Ohren: erlaubt. Kopfstöße oder Schläge auf den Hinterkopf: absolutes Tabu.
"Ultimate Fighting" ist ein Milliardengeschäft
Es sind die Regeln eines Extremsports, der in der Gunst des Publikums vieler Länder das klassische Boxen längst überholt hat. Besonders in den USA, wo vor einigen Monaten eine Investorengruppe unter Leitung der Hollywood-Agentur WME-IMG für rund vier Milliarden Dollar die Mehrheitsanteile am Weltmarktführer Ultimate Fighting Championship (UFC) übernahm.
MMA-Kämpfe füllen gigantische US-Arenen, die großen TV-Sender strahlen die Duelle aus, Millionen Fans rund um den Globus schalten ein. Auf den Bildschirmen nahm Sharma im Herbst 2015 eine Hauptrolle ein. Als einziger Deutscher mischte er in der Reality-TV-Serie "The Ultimate Fighter" mit, einem "Big Brother"-Format für 16 Kampfsportler aus Europa und Amerika.
Über Wochen wohnte und trainierte Sharma unter MMA-Stars, die in Käfigkämpfen im K.o.-Modus gegeneinander antraten. Der Sieger der Show, die auch in Ländern wie Irland, Mexiko und Brasilien ausgestrahlt wurde, erhielt eine Harley-Davidson - und den begehrten Vertrag mit der UFC.
Das zusammengefaltete Weichei
So ein Vertrag lockte Sharma, als er zu den Castings nach Las Vegas flog. Hunderte Kämpfer warfen sich dort vor den Augen der Show-Macher gegenseitig in einem Hotelballsaal über die Matten, die meisten schritten mit gesenktem Blick wieder zur Tür hinaus. Nur die Besten durften am Ende der Woche vor UFC-Präsident Dana White vorsprechen: "Wir suchen Typen, die kämpfen können, eine wirkliche Persönlichkeit haben und uns unterhalten", erklärte White.
Sascha war dabei. Auch dank seiner Lebensgeschichte stieg der deutsche Athlet rasch zum Liebling der Fans auf. Doch bereits vor seinem zweiten "Ultimate Fighter"-Kampf diagnostizierten Ärzte eine schwere Schulterverletzung und empfahlen ihm einen Show-Ausstieg. Sascha Sharma jedoch gab nicht auf, stieg trotzdem in den Käfig, konnte aber mit links vor Schmerzen kaum zuschlagen - und verlor nach Punkten.
Sein damaliger Show-Trainer, der irische MMA-Star Conor McGregor, brüllte ihn vor den TV-Kameras nieder. Sharma habe seine Anweisungen missachtet. Die Verletzung seines Schützlings verschwiegen die TV-Macher und McGregor, dessen Wutausbruch bis heute eine Million Klicks auf YouTube sammelte.
"Für viele bin ich seitdem das Weichei, das von Conor McGregor zusammengefaltet wurde", sagt Sharma. "Es wäre nur fair, eine zweite Chance zu bekommen, um das Gegenteil zu beweisen."
Die Kampfsportart wird in Deutschland immer populärer
Am Abend nach dem Training sitzt Sharma in seinem Birkenfelder Wohnkeller und jagt im Videospiel "Mafia 3" Ganoven. Wenn er kein MMA betreiben würde, sagt er, wäre er wohl ein dicker Computernerd geworden. Nun ist er ein Nerd mit Sixpack und großer Fitness-Ecke im Zimmer: Boxsack an der Decke, Gewichte auf dem Boden.
Neben dem Spiegel an der Wand hängen fünf Arnold-Schwarzenegger- Poster: "Mein absolutes Idol", sagt Sharma. "Arnie kam damals mittellos in die USA und hat sich nach ganz oben gekämpft." Gern würde er seinem Idol folgen. Die Gagen in den USA sind bis um das Doppelte höher als die deutschen. Der hiesige Aufschwung des MMA-Sports zahlt sich für Kämpfer noch nicht spürbar aus.
Ende 2014 kippte das Bundesverfassungsgericht zwar das TV-Übertragungsverbot von UFC-Kämpfen, das die Bayerische Landeszentrale für neue Medien 2010 erreicht hatte. Erstmals wurden auf ProSieben Maxx jetzt wieder MMA-Duelle im Free-TV ausgestrahlt. Doch Sharmas großer Final-Abend in Dresden war nicht dabei.
"Du gibst jetzt nicht auf, nicht jetzt!"
Sieben. Sechs. Fünf. Eisern hält er in den letzten Sekunden dieses Abends dem Schmerz im Kniehebel seines Gegners Kruschinske stand - und der spürt, dass ihm die Zeit davonrennt. Er dreht den Hebel an Sharmas ausgestrecktem Bein weiter zu. Der schreit hilflos auf, sein Innenband reißt weiter.
Zu große Brutalität beanstanden Kritiker an MMA-Kämpfen, manche wollen sie in Deutschland verbieten lassen. Wie viel Wahrheit steckt in ihren Vorwürfen? Experten haben darauf keine klare Antwort. Studien des Ringarztes Mahmoud Taghavi belegen, dass akute Verletzungen beim MMA seltener sind als im Boxsport. Doch eine australische Studie von 2014 besagt: "Die Verletzungsschwere im MMA scheint größer als in fast allen anderen populären Kampfsportarten zu sein."
Als Sharma vor Schmerzen aufschreit, springt sein Coach Oliver Maier von seinem Sitz hoch. "Sascha, du gibst jetzt nicht auf, nicht jetzt!", brüllt er seinem Schützling zu, der gegen Kruschinskes Kniehebel wehrlos ist. Sharma reißt den Mund auf, streckt den Kopf zurück, schließt die Augen. Vier. Drei. Zwei. "Gleich, Sascha, gleich . . .", ruft Maier.
Eins! Die Glocke läutet, der Ringrichter wirft sich zwischen die Kämpfer. Es ist vorbei. Sharma schnappt nach Luft. Und realisiert, dass er es geschafft, dass er den Vertrag mit Russlands führendem Verband gewonnen hat: zwei Jahre, 40.000 Dollar, zwölf Kämpfe. Sein Traum ist real geworden.
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