Jede Nacht stehen sie neben seinem Bett und schauen ihn an. Er wird sie nicht mehr los. „Diese Typen, die ganz anders aussahen, als ich mit ihnen fertig war.“ Der asiatische Grenzbeamte. Der blonde Dealer mit den Sommersprossen. Und noch ein paar Männer mehr, die ihm während seiner Laufbahn als Drogen-, Waffen- und Menschenhändler in die Quere gekommen waren. T. schlug zu, T. drückte ab, viele Male. Heute sind seine Opfer die Zombies seiner Albträume – und der höchste Preis, den der Hells Angel T. für mehr als 30 kriminelle Jahre zahlt.
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Vielleicht will er deshalb reden. Ein Berg von einem Kerl, Mitte 50, dunkles Haar, schmaler Bartstreifen, verhangener Blick. Einfach so, wegen der Uhrzeit, würde man ihn auf der Straße nicht anquatschen. Einfach so würde er auch nicht plaudern. Wenn so einer sagt: „Okay, reden wir“, hat er Gründe.
T. sagt, dass er gegen seine Hells Angels auspackt, weil er einiges richtigstellen wolle in seinem Leben und im Club. Weil ihm „das Gequatsche auf den Sack geht“ – die falschen Abmachungen, mit denen die deutschen Ober-Engel ihre Leute verheizten. Die Dummheit, mit der die kleineren Rocker sich verarschen ließen. „Aber erst mal, damit du’s weißt: Ich bin kein Aussteiger. So etwas gibt es nicht. Einmal Engel, immer Engel. Und wer singt, ist ein mundtoter Engel. Man droht ihm oder recycelt ihn.“ T. lebt gefährlich.
Er macht keine langen Sätze. Beinahe ausdruckslos dringt seine Stimme durch die Clubmusik. Sein Blick, fest und taxierend wie eine Kamera, lässt sich von den Lichtpunkten, die über Perlenvorhänge, Spielautomaten und Dekolletés hinter der Bar wandern, nicht aus der Spur bringen.
Der Name der Bar, die er ausgesucht hat für das erste Treffen, der Name der Stadt, T.s Name – all das darf in dieser Geschichte keine Rolle spielen. Denn Engel, die singen, legen sich mit einem milliardenschweren Imperium der organisierten Kriminalität an, das mit Mordlust und absoluter Diskretion geschützt wird. Viel wussten die Leute auf der Straße daher nie über die deutschen Höllenengel. Vielleicht noch, dass es sich um schwere Jungs mit Rockerkutte und geflügeltem Totenkopf-Logo handelt. Dass einzelne ihrer lokalen Clubs, die Charter, verboten wurden wegen Drogenhandels, Waffen oder blutigen Kämpfen mit rivalisierenden Motorradgruppen wie den Bandidos. Ansonsten ist allgemein nur bekannt, dass Hells Angels viele Bordelle in Deutschland betreiben. So stellt Frank Hanebuth, Präsident des Charters Hannover, seine Jungs in den Medien gern als ehrbare Bürgerwehr für mehr Sicherheit in der Rotlichtszene dar. Als eine Mannschaft, in der zwar geprügelt wird, Mädels nach Machopfeifen tanzen und Motorräder knattern. Aber: „Keine Drogen! Keine Waffen!“ Erst im Mai posierte Hanebuth prominent mit einem Bandido-Chef zum öffentlichen Friedensschluss neben Anwalt Götz-Werner von Fromberg, der in einer Bürogemeinschaft mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder in Hannover residiert.
Im Kern jedoch, um den herum „dieser Medienquatsch“, wie T. sagt, so geschickt gesponnen wurde, seien illegale Handelsgeschäfte der einzige Sinn und Zweck der Organisation:
„Vergiss die Motorradfahrer"
„Vergiss die Motorradfahrer. Vergiss die Lederkutten und die Tattoos. Das ist alles Inszenierung. Die meisten wirklich Aktiven erkennst du gar nicht. Das kann jeder sein.“ Diese oft viel unauffälligeren Leute in den Entscheidungsebenen, zu denen er sich zählt, hielten den Club am Leben, „weil sie das Geschäft machen – und nur darum geht es.“ Ein Geschäft, das auf Vertrauen und Angst basiert. Zu 50 Prozent würden die Gewinne mit Kokain, Speed und Marihuana erwirtschaftet, rechnet T. vor. Zu 30 Prozent mit Menschenhandel aus Osteuropa, Asien und Südamerika für die hiesige Prostitution. Und zu 20 Prozent mit Waffen fürs befreundete internationale Umfeld und die rechte Szene in Deutschland. Bis auf ein paar Prozente hin oder her bestätigen das auch polizeiliche Ermittler. In so einem schrecklich netten Familienunternehmen schwärzt niemand seine „Brüder“ an.
Jedenfalls nicht mit offenem Visier. Das sehe man ja bei Uli Derois, sagt T.: Der Kasseler aus der Tattoo- und Lederkuttenfraktion hat gerade einen Bestseller gelandet mit dem Titel „Höllenritt – ein deutscher Hells Angel packt aus“. Doch illegale Geschäfte und Auftragsmorde behandelt er darin mit größter Distanz. Niemand wird identifizierbar außer ihm selbst. Und so ähnlich werde es auch beim Buch „Der Rache-Engel“ sein, sagt T., das im Oktober im Riva- Verlag erscheinen soll. Darin will Thomas P. plaudern, ein abgetauchter Kronzeuge gegen die Angels. „Die zwei wären tot, wenn sie wirklich auspackten. Du glaubst doch nicht, dass die sich verstecken können. Wir haben unsere Leute überall. Im Ausland, bei der Polizei.“
T. steht auf, weil plötzlich ein angetrunkener Automatenspieler die Bedienung anpöbelt. Sie solle ihm das verzockte Geld zurückzahlen. Die Frau hebt die Augenbrauen. „Was bist’n du für’n Arschloch?“, schießt es aus T. heraus, als hätte jemand einen Schalter bei ihm umgelegt. „Halt die Fresse, du Pisser! Pack deine Sachen, mach dich weg! Los, raus mit dir! Sonst mach ich dich weg! Du kranker Wichser!“ Die Sätze rattern wie Salven, dazu T.s Statur, bedrohlich aufrecht und angriffslustig. Der Typ flieht. T. schüttelt den Kopf. „Ja so ein dummes Arschloch! Ich zahle jetzt.“
Weg ist er. Und lässt auf sich warten. Eine Woche. Noch eine. In der dritten, mitten in der Nacht, meldet er sich wieder – per SMS. Man möge in eine andere Kneipe draußen am Stadtrand kommen. Jetzt gleich. „Nimm dir’n Taxi.“ Wird es wieder kritisch? Ist etwas passiert? Nein, T. lehnt entspannt an der Bar. Er will nur – von Angesicht zu Angesicht, abhörsicher – „für demnächst mal“ in eine Innenstadtwohnung bitten. Außerdem: Ich kann eh nicht schlafen. Weißte ja schon. Trinkst du’n Bier mit?“ Einer seiner Kumpels gesellt sich dazu. Typ Schrank, Russe, äußerst wortkarg. Man trinkt, schweigt, trinkt, guckt einem Mädel nach. „Süß, hm?“, sagt T. Später wird sie auf seinem Schoß sitzen und ihm über den vernarbten Kopf streicheln, als wolle sie ihn trösten. Dabei will er keine Zuschauer: „Mach’s gut, ich melde mich.“
Wieder warten. Tagelang. Dann die nächste Botschaft, diesmal am helllichten Nachmittag: „Kannst kommen!“ Er meint die Wohnung. Rätseln vor den Klingelschildern neben der Haustür, doch jemand hat aus dem Fenster geschaut und drückt auf. T. empfängt zwischen leeren Wänden, Zweckbau sechziger Jahre, darin ein Kühlschrank voller Flaschen, ein Fernseher, eine Couch – ist das seine Wohnung?
„Spielt keine Rolle. Setz dich. Hier: ’n Averna“, sagt T. „Jetzt mach die SIM-Karte aus dem Handy.“ Er schließt das Fenster. „Also, zur Sache!“
Früher, das müsse man wissen, da seien die Engel „einfach gute Freunde“ gewesen, die gemeinsame Ziele hatten. Meist Leute aus kaputten Familien. Wer zu Hause nur Schläge bezog, Vater Alkoholiker, Mutter nie da, und wer gern Moped fuhr, mit Drogen rumprobierte und Kumpels suchte, die für ihn einstanden: Der war dabei. „Drogenhandel, Prostitution, Waffen – da wollten wir uns einmischen. Es war ein Leben wie auf einem großen Abenteuerspielplatz. Alles, was sich ein Junge erträumt: Tolle Frauen, Reisen, Waffen, Action und Spannung – und alle haben einen gewissen Respekt vor dir. Du stehst für die Jungs ein und sie für dich – und zwar bis zum Letzten. Das ist schon ein cooles Gefühl. Du musst keiner geregelten Arbeit nachgehen, hast viel Nachtleben. Ich bereue jedenfalls wenig.“
"Einer für alle, alle für einen"
In solch verschworenen Kreisen entstand das Geschäft. „Jeder bringt da seine Fähigkeiten ein“, sagt T. Der eine hat Kontakte ins Ausland, der andere versteht sich auf Inkasso- Sachen, wieder ein anderer führt vielleicht eine Bäckerei und kann schmuggeln, lagern, liefern. Dann und wann landet einer im Knast. „Aber fast nie, in maximal fünf Prozent der Fälle, fällt vor Ermittlern, Anklägern oder Richtern der Name Hells Angels.“ Einer für alle, alle für einen: Wer aktiv ist im Geschäft, ist’s auf eigene Rechnung und hält die Klappe. Mancher hat pro Stadt fünf, sechs Wohnungen unter falschen Namen angemietet.
Fliegt er mit einer auf, wandert er mit einer selbst gestrickten, wasserdichten Geschichte in den Bau. Eine Geschichte, in der die Worte Hells Angels natürlich nicht vorkommen. Dann sitzt er seine Zeit ab, kommt wieder heraus, und die Engel-Familie hilft ihm auf die Füße. Genug Geld dafür war immer in den Kassen. Denn jeder Aktive tritt festgelegte Anteile seiner Gewinne nach oben ab: ans Charter, das Charter ans jeweilige Gebiet und jedes Gebiet an die nationale Gemeinschaftskasse. Aus der fließen Investitionen wieder nach unten: Es werden Waffen gekauft, Immobilien und was immer einer braucht, je nach Größe des nächsten geplanten Geschäfts. „War eigentlich immer ein gutes Unternehmen, die Engel“, sagt T. „Alles funktionierte, weil die Gemeinschaft funktionierte.“
Mit dem Geschäft aber wuchsen die Ansprüche: mehr Geld, mehr Drogen, dazu mehr Einfluss im Milieu und wachsender Konkurrenzdruck – man brauchte Personal. Im Lauf der 90er-Jahre gemeindeten sich die großen Charter daher viele kleine Rockerclubs aus der Provinz ein. Wer nicht wollte, durfte aufhören, Rocker zu spielen. Die meisten aber waren stolz, jetzt bei den großen Angel-Chartern mitzumischen. In dieser Zeit kam auch Derois vom Club Bones zu den Engeln. Das Geschäft verbreitete sich über die kleineren Städte und Gemeinden – „so, wie man es bei Fusionierungen in der Wirtschaft kennt. Plötzlich gehören der großen Firma ganz viele Tante-Emma-Läden“, sagt T. Das Problem daran: Die einst eingeschworene Gemeinschaft wurde beliebig, Supporter-Gruppen wie die Red Devils kamen hinzu, die als Subunternehmer kleine Auftragsarbeiten erledigten. „Es gibt seither viele Bauern im Club, und nur noch wenige, vielleicht 20 Prozent, die wissen, was wirklich läuft. Der Rest sind Marionetten, die sich wichtig fühlen, wenn sie mal eine Kurierfahrt machen oder in einem Bordell nach dem Rechten sehen. Und dann prahlen sie mit ihren Kutten vor Gericht und verschaffen sich im Knast Respekt mit ihrer Zugehörigkeit zu den Engeln.“
T. nennt diese Art von Hells Angels „Folkloregruppen“. Er vergleicht sie mit Bierkutschern in Tracht, wie sie beim Münchner Oktoberfest auffahren, während die Finanzen des Braugeschäfts in Belgien zusammenlaufen. Ganze Charter bestehen aus kriminell inaktiven Mopedfahrern. „Du glaubst doch nicht, dass die wirklich Aktiven in der Öffentlichkeit mit Kutte Gesicht zeigen, die gehen nicht auf Rockertreffen oder zu öffentlichen Partys!“
"Ohne Bauern kein Staat“
Er schaut aus dem Fenster. Auf der Straße steht eine Frau mit Fototasche. Sie schaut hoch. T. findet das nicht lustig. „Kennst du die? Guck mal. Was will die hier? Die ganze Zeit rennt die hier rum. Ich glaub’s nicht!“ Ein Jäger, der so viel Beute im Keller hat wie T., ist offenbar nicht nur in seinen Träumen der Gejagte. „Bist du sicher, dass du die noch nie gesehen hast?“ Er ist von Gespenstern aus Fleisch und Blut umgeben. „Die meisten Aktiven“, sagt er, als er sich nach Minuten wieder beruhigt hat, „sehen jedenfalls aus wie du und ich, das sind Malermeister, Architekten, Bäcker, Rechtsanwälte, die nach außen ein normales Leben führen.“ Nur bei den großen Schlachten, wenn man sich in den 90ern mit den Bandidos zum Rockerkrieg im Ausland verabredete, mussten ausnahmslos alle ran. „Ansonsten vergiss die Motorradfahrer. Nie im Leben geht es ums Motorradfahren! Aber man braucht halt auch Bauern. Ohne Bauern kein Staat.“
Bauern werden gern ausgenutzt, auch in der Unterwelt. Am oberen Ende der Höllenhierarchie agierten die Kassenverwalter und Geldwäscher „mit der Zeit immer autonomer“, sagt T. Leute aus der gehobenen Gesellschaft seien das, unter ihnen zum Beispiel ein großer deutscher Bauunternehmer. „Die können mittlerweile machen, was sie wollen. Die haben die Bodenhaftung verloren.“ Man sehe sie „auf Kulturveranstaltungen im schwarzen Anzug, aber zugekokst bis über die Ohren.“ Diese Leute hätten sich immer weniger an die Vereinbarungen mit den kleinen und großen Banditen gehalten, die das Geld einspielten. Die ihre Lebenszeit im Knast opferten.
Die, die Knochen hinhielten. „Die Typen in der Führung kassieren heute nur noch ab und glauben, dass die Leute weiter unten im Club nichts dagegen unternehmen könnten, weil sie gefangen sind zwischen den Regeln der Engel und der Staatsgewalt“, sagt T. Aber sie könnten sehr wohl etwas unternehmen: „Sie könnten mal einem der hohen Herren einen Inkasso-Besuch abstatten.“ Er nestelt unvermittelt die SIM-Karte in sein Handy, sagt „Moment!“ und hört eine Botschaft ab, die ihn sofort zum Aufbruch bewegt. Seine bürgerlichen Geschäftspartner oder die aus der Hölle? Das verrät er nicht. „So oder so, das Geschäft ruft“, sagt er nur. Und: „Ich melde mich bei dir, okay?“ Also wartet man wieder. Und wieder empfängt er spontan in der Wohnung – für eine Stunde, „wird schon reichen“. Schließlich bestimmt er, wann es genug ist.
"Das Vertrauen ist weg“
Der fehlende Zusammenhalt habe die Hells Angels mittlerweile sehr verändert, sagt T. Manche versuchten neuerdings, die Geschäftseinnahmen auf eigene Konten zu schaffen. Andere halten Ermittlern gegenüber nicht mehr dicht. Und neue Mitglieder sind heute keine Freunde mehr, die sich Vertrauen verdienen, sondern sie werden mit zunehmender Gewalt auf Spur gebracht. Für Leute, die Clubmitglieder werden wollen, „gibt es am Anfang jetzt immer schlimmere Scheißjobs zu erledigen und Demütigungen ohne Ende“ sagt T. „Das kann sein, dass sich einer von dir die Schuhe putzen lassen will, und wenn du das nicht machst, wirst du von allen gestiefelt. Ganz wichtig ist: Putz die Schuhe trotzdem nicht, sonst hast du ganz verloren. Du sollst zeigen, dass du jemand bist. Die Prügel musst du aushalten. So sieht das heute bei den Engeln aus. Das Vertrauen ist weg.“
Früher, als sie noch Freunde waren, sahen sie sich jeden Neuen nur genau an. „Erst wurde geguckt, ob du die Fresse halten kannst. Dann war dein Verhältnis zu Drogen wichtig und wie du mit Frauen umgehst. Bist du ein Spinner, der quatscht und quatscht, bis er zum Knallen kommt? Geht nicht. Warst du okay, dann hast du die ersten kleinen Sachen gemacht, Transporte zum Beispiel.“ So wurden die Jobs mit der Zeit anspruchsvoller, die Verbrechen kapitaler. „Wenn du da erst mal drin bist, fängst du an, dich abzukapseln“, sagt T. „Du hockst wochenlang mit Säcken voll Koks in einer Lagerwohnung und knallst dir die Birne weg. Du gehst mit schönen Mädels aus, machst ihnen teure Geschenke, gibst ihnen Drogen, und bevor sie checken, was läuft, sind sie schon total versaut. Dann bringst du sie mit falschen Papieren nach Deutschland. Oder du treibst Geld ein, hältst Leuten das Messer an den Hals. Hast Schießereien, fährst mit Lastwagen voller Knarren durch andere Länder.“ Mit der Zeit allerdings werde aus dem ganzen Abenteuer viel Knast, aus den Drogen Krankheit, „du verlierst Freunde, du hast keine Familie“. Am schlimmsten aber, sagt T., „sind die Typen, die auf der Strecke geblieben sind und dich im Schlaf besuchen“. So gehe es vielen alten Engeln.
Sind die Engel also am Ende, noch bevor sie vielleicht eines Tages in Deutschland verboten werden, wie die Innenministerkonferenz immer wieder diskutiert? Nein, sagt T. Denn die Leute leben ja weiter. Die Geschäftsverbindungen bleiben, die gemeinsamen Leichen im Keller. „Die Jungs werden sich einfach andere Erkennungszeichen geben. Kutten und Motorräder müssen ja nicht sein.“
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