Visionär oder Spinner? Paul Stephens will mit einer Gruppe Freiwilliger eine Trekkingroute in das Kaukasus-Gebirge schlagen, die das Schwarze Meer mit dem Kaspischen verbindet: den Transcaucasian Trail. Vor ihnen liegen 1500 Kilometer harte Arbeit. Aber Schweiß und Blut sind noch das kleinste Problem

Im Großen Kaukasus, im Schatten des schroffen und majestätischen Berges Uschba, auf rund 2200 Meter Höhe schreitet Paul Stephens durch den Wald und zieht ein Maßband hinter sich her. Es ist Zeit, die ganze Verwegenheit seines Plans mal in Zahlen zu fassen. Meter für Meter lässt er das Band aus einer Rolle auf den schmalen Pfad unter seinen Füßen fallen.

Er klettert über einen dicken Baumstamm. „Der kommt weg, wenn wir die Motorsäge repariert haben.“ Er passiert ein Dutzend Äxte und Macheten, die auf dem Waldgrund liegen, und stampft mit seinen Stiefeln auf den Boden.

Sieben Minuten Fußweg in sieben Tagen Arbeit

„Wirklich gute Arbeit.“ Als der Pfad plötzlich endet, mitten zwischen Farnen und Tannen, lässt er das Maßband in die Rolle surren und sagt: „424 Meter.“ Es ist die Länge des Pfades, die sein Trupp Freiwilliger in der vergangenen Woche in den Berg geschlagen hat. Sieben Minuten Fußweg in sieben Tagen Arbeit.

„Wenn wir in diesem Tempo weiterbauen, brauchen wir für den ganzen Weg 3500 Wochen“, sagt Paul. „Das sind 67 Jahre. Allerdings arbeiten wir immer nur drei Monate im Sommer. Macht also 268 Jahre.“ Paul rückt sein Trucker-Cap zurecht. Er kratzt sich kurz am Bart. „Aber ich glaube, wir können es in zehn schaffen.“

Ist das noch Optimismus oder schon Irrsinn?

Der Weg, von dem Paul spricht, ist ein Mammutprojekt. Eines der wohl spannendsten der Outdoor-Welt. Ganz sicher eines der ungewöhnlichsten. Und die Geschichte von Paul ist die eines Mannes, der einer eigentlich viel zu großen Idee verfallen ist wie andere Männer einer eigentlich viel zu schönen Frau und der jetzt darum kämpft, sein Ziel zu erreichen. Trotz aller Widerstände, Rückschläge, Zweifel.

Paul ist 35 Jahre alt, US-Amerikaner und stammt aus Indiana. Nach dem College meldete er sich als Freiwilliger beim US-Peace-Corps, einer Organisation, die junge Amerikaner zu Entwicklungsprojekten weltweit schickt, und landete in Georgien.

Er unterrichtete Englisch in einem Dorf am Schwarzen Meer, wanderte im Kaukasusgebirge, das sich längs durch den Norden des Landes zieht, verliebte sich in die Gegend – und hatte irgendwann diesen Einfall.

Credit: Playboy Deutschland

Eine 1500 Kilometer lange Trekking-Route durchs Kaukasusgebirge

Erst sprach er nur mit Freunden darüber, halb im Scherz nach ein paar Gläsern Wein: Wie wäre es, wenn es einen Fernwanderweg gäbe, der das Schwarze Meer mit dem Kaspischen Meer verbände? Der Länge nach durchs Kaukasusgebirge. Eine 1500 Kilometer lange Trekking-Route. Vorbei an 5000 Meter hohen Gipfeln.

Über die Grenze zwischen Georgien und Aserbaidschan hinweg. Ein Trail wie der berühmte Appalachian Trail in den USA oder der Annapurna Trek in Nepal. Ein Projekt, das Touristen in die armen, von Abwanderung geplagten Regionen des Kaukasus bringt. Ein Weg zur Völkerverständigung in einer von endlosen politischen Konflikten geplagten Weltgegend. Der Name: „Transcaucasian Trail“. Das wäre doch eine fantastische Idee. Oder etwa nicht?

Paul steht unter einer Plane im Camp seines Arbeitstrupps in den Bergen und blickt in verschwitzte Gesichter. Um ihn herum sitzt eine neue Gruppe Freiwilliger, die eben erst angekommen ist. Ein knappes Dutzend junge Leute, die in der kommenden Woche am Trail arbeiten werden. Männer und Frauen aus Georgien, England, den USA. Zwischen 20 und 36 Jahre alt, voller Enthusiasmus, aber ohne jede Trailbau-Erfahrung im Gebirge.

Die Gefahren: Gewitter, Bären, "Grabenfüße"

In den vergangenen Tagen haben sie eine erste Einführung bekommen: Von den „epischen Gewittern“ hier oben in den Bergen war die Rede. Vom Risiko, sich durch all die Tage in nassen Stiefeln einen runzlig-fauligen und monströs schmerzhaften „Grabenfuß“ zu holen wie einst die Soldaten im Ersten Weltkrieg. Und von der Gefahr, einem der zahlreichen Bären zu begegnen. Im Vergleich zu Gewitter und Grabenfuß seien die jedoch harmlos. Es helfe: groß machen und schreien. Dann hauen die Bären ab. Außer sie haben Junge dabei. Oder Zahnschmerzen. Dann drehen sie schnell mal durch.

Der Kaukasus ist ein gefährliches Gebirge, die Arbeit am Trail eine brutale Plackerei. Trotzdem haben sich für diesen Sommer 43 internationale und 25 georgische Freiwillige bei Paul angemeldet, die an dem Wanderweg arbeiten wollen.

Bis Ende August wird jede Woche ein neue Gruppe von etwa zehn Freiwilligen zu dem Zelt-Camp wandern, das nur aus ein paar Planen, einer Feuerstelle und ein paar an einem Tannenstamm hängenden Pfannen besteht, und dort oben hacken, sägen und leiden: unter Blasen, Moskitos, Hitze, Kälte, Nässe, Erschöpfung und dem täglichen Haferschleim zum Frühstück.

Sie alle wissen das. Und sind trotzdem gekommen. Denn die Story vom Bau des Transcaucasian Trail hat sich in der Outdoor-Welt herumgesprochen. Sie zieht Abenteurer an, Idealisten, Romantiker. Das Projekt nimmt langsam Fahrt auf. Für Paul war es allein bis hierhin schon ein verdammt strapaziöser Weg.

Ein paar Jahre lang schien die verrückte Idee vom Trail durch den Kaukasus genau das zu bleiben: eine verrückte Idee. Paul ging zurück in die USA, absolvierte eine renommierte Journalistenschule in New York, berichtete als Reporter aus dem Jemen, arbeitete für die amerikanische Botschaft in Georgien, zog dann nach Washington D.C., schrieb als Journalist für eine Website und unterrichtete an einer Highschool.

„Ich fühlte mich so uninspiriert von meinem Leben“

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Er machte aus Karrieresicht vieles richtig – aber sich selbst immer unglücklicher. „Ich fühlte mich so uninspiriert von meinem Leben“, sagt Paul. Und irgendwo in seinem Hinterkopf geisterte noch immer der Transcaucasian Trail herum.

Als er im Sommer 2015 zwei Monate frei hat, überzeugt er seinen Kumpel Jeff, den er aus der Zeit im Peace Corps kennt, gemeinsam nach Georgien zu reisen. „Wir dachten, dass wir eine Route, die den Kaukasus durchquert, einfach finden könnten. Dass wir sie nur kartieren und darüber schreiben müssten, um sie in die Welt zu setzen.“ Sie leihen sich Geld von Freunden und machen sich auf die Reise. Die führt sie in die Bergregionen von Tuschetien und Swanetien. Durch meterhohen Schnee und reißende Flüsse.

Zu Einheimischen, die sie aufnehmen, als sie sich in den Bergen verlaufen, und zu Ärzten, die helfen, als Jeff sich den Fuß bricht. Und am Ende der zwei Monate führt sie sie zu einer Erkenntnis: Wenn der Transcaucasian Trail Realität werden soll, müssen wir zumindest Teile davon selbst bauen – und es gibt keinen besseren Ort, um damit anzufangen, als Swanetien.

Die Region im Nordwesten Georgiens ist eine Art Eldorado für abenteuerlustige Alpinisten. Umringt von 5000 Meter hohen Gipfeln, gespickt mit steinernen Dörfern voller mittelalterlicher Wehrtürme und besiedelt vom stolzen Volk der Swanen, war sie lange Zeit fast völlig isoliert von der Außenwelt. Es ist nicht lange her, dass Blutrache und Brautentführungen hier oben ein ernsthaftes Problem waren und Verbrecherbanden die Gegend als Rückzugsort nutzten.

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Ein unfassbarer Sommer - In vielerlei Hinsicht

Doch seit die Regierung im März 2004 Spezialeinheiten nach Swanetien geschickt hat, um aufzuräumen, haben sich die Dinge verändert. Die Politik hat das touristische Potenzial der Region erkannt und fördert es. Im Jahr 2012 wurde eine Straße nach Mestia, dem mit 2000 Einwohnern größten Ort Swanetiens, fertiggestellt. Seitdem kommen immer mehr Bergsteiger und Wanderer in die Region. Swanetien, das war Paul klar, war der perfekte Ort, um ein erstes Vorzeigestück des Transcaucasian Trail zu bauen. Wegen der spektakulären Natur, der logistischen Voraussetzungen und natürlich der potenziellen Wanderer.

„Im Sommer 2016 wollten wir einfach mal loslegen“, sagt Paul. Er sprach bei den lokalen Behörden vor. Die sagten nur: „Klingt gut, mach einfach mal.“ Die Einheimischen, mit denen er redete, sagten dasselbe. Und so stand er im Juli 2016 mit seinem Kumpel Jeff und einer Handvoll Freunden und Helfern in einem Wald in Swanetien und begann mit einer Axt in der Hand, seinen Traum zur Realität zu machen. Es wurde ein unfassbarer Sommer. In vielerlei Hinsicht.

Die Arbeit ging gut voran. Sie bauten neue Trails und verbanden so alte Pfade, die sie bei Erkundungstouren, auf Satellitenbildern oder alten Karten aus der Sowjetzeit entdeckt hatten. Sie errichteten eine Holzbrücke über einen Fluss, campierten zwischen den Ruinen verfallener Bergdörfer und spielten Gitarre unterm Sternenhimmel. Es lief gut.

Und dann geschah der Mord

Dann begannen die Probleme. Erst wurde ein Mitarbeiter der lokalen Verwaltungsbehörde misstrauisch, schnüffelte ihnen nach und drohte sogar, sie festnehmen zu lassen. Es dauerte ein wenig, bis er sich beruhigt hatte und die Drohung schließlich als Scherz abtat.

Als Nächstes stürzte ihr einziges Auto, ein Minibus mit Vierradantrieb, in einen Graben, als ein lokaler Abschleppdienst daran scheiterte, ihn ordentlich aufzuladen. Das Auto war Schrott, und Paul musste neun Monate kämpfen, um eine kleine Entschädigung zu bekommen. Und dann, als wäre das alles nicht genug, geschah der Mord.

Sein Name war Fritz. Ein US-Amerikaner, 40 Jahre alt. Er hatte Hilfe beim Scouten der Route angeboten. Fritz reiste durch Aserbaidschan und brachte Karten und Routenvorschläge mit nach Mestia, wo er Paul und das Team einige Tage besuchte. Dann machte er sich auf den Weg nach Tuschetien, eine Gebirgsregion in Nordostgeorgien, um dort weiterzuwandern.

Am 12. August wurde seine Leiche in der Nähe des Dorfes Techuli gefunden. Er war in seinem Zelt ermordet morden. 16 Messerstiche zählte die Polizei. Am nächsten Tag nahm sie einen 20-jährigen Georgier fest. Er gestand die Tat. Auslöser soll ein Streit gewesen sein. Paul spricht leise, als er davon erzählt. „Das war für uns alle ein Schock. Es war unglaublich traurig. Und völlig verrückt.“

Paul und seine Gruppe machten trotz allem weiter. Bis Ende August schafften sie es, zahlreiche schon existierende Pfade in der Region so miteinander zu verbinden, dass ein insgesamt etwa 60 Kilometer langer Wanderweg entstand: vom abgelegenen Dorf Nakra bis Mestia. Es ist ein abenteuerlicher Trail, der durch dichte Wälder führt, vorbei an schneebedeckten Gipfeln – und zu Männern wie Valeri Vipliani.

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Ein Hotel im Nirgendwo

Das rote Holzfällerhemd halb aufgeknöpft, die ausgewaschene Baseballkappe schief auf dem Kopf, steht Valeri, 67, vor seinem Haus im halb zerfallenen Bergdorf Kichkhöldäsh und reicht zur Begrüßung seine raue Pranke. Seit die letzten Nachbarn das Dorf vor 15 Jahren verlassen haben, lebt er hier oben, auf 1600 Meter Höhe, allein mit seiner Frau Maria. Und seit der Transcaucasian Trail vor seiner Haustür vorbeiführt, steht „Familiy Hotel“ über der Tür zu seinem Haus.

Er hat es, ein wenig kunstlos, dort hingesprüht. Valeri hat 60 Kühe, baut Kartoffeln an, erntet jedes Jahr so viel Obst, dass er daraus hektoliterweise Schnaps brennt, und schießt ab und zu einen Bären. Des Fells und des Fleisches wegen. Ob man mal probieren wolle? Er wartet die Antwort nicht ab, sondern holt eine Plastiktüte aus seinem Gefrierschrank und präsentiert den enthäuteten, gefrorenen Arm eines Bären. Die Handgelenksknochen, die gekrümmten Finger, er sieht aus wie ein Menschenarm.

Etwa 20 Gäste habe er diesen Sommer schon gehabt, sagt Valeri. Wenn sie ihn wieder verlassen, begleitet er sie immer die paar Kilometer hinunter zur wackligen Holzbrücke, die er für den Transcaucasian Trail gebaut hat. Valeri hilft ihnen beim Überqueren des Flusses, dann trinkt er mit ihnen einen Schnaps. Das ist sein Ritual. Leben könne er von den Besuchern natürlich nicht, sagt er. Und das sei ihm eigentlich auch egal. „Aber“, sagt seine Frau Maria, „es wäre schon schön, wenn es ein paar mehr würden.“

Ein paar Täler weiter arbeitet Paul daran, dass ihr Wunsch wahr wird. Während die neuen Freiwilligen sich noch von den Strapazen des Aufstiegs ins Camp erholen, besichtigt er das Stück Trail, das der Vorgängertrupp gebaut hat. Als er am Ende der 424 Meter angelangt ist, marschiert er weiter durchs Dickicht, vorbei an kleinen Flaggen, die markieren, wo gebaut werden soll.

Natürlich werde man in diesem Tempo nie fertig werden, sagt er. Aber er hofft, bald drei bis vier Gruppen gleichzeitig am Berg zu haben. Paul finanziert das ganze Unterfangen mit Spenden. Innerhalb der nächsten drei Jahre möchte er drei eigenständige Passagen von je etwa 200 Kilometer Länge fertiggestellt haben. Innerhalb der nächsten sieben Jahre sollen diese verbunden werden. Dann kommt der Rest.

Um kurz nach acht Uhr am nächsten Morgen schlagen die neuen Trail-Arbeiter mit Macheten und Äxten ihre ersten Stücke aus dem Wald. Sie werden bald Schmerzen haben, blaue Flecken, vielleicht einen Finger weniger. Aber auch das Gefühl, an etwas Großem gearbeitet zu haben, das bleibt. Am Ende ihrer Woche dort oben notiert Paul in seinen Notizblock: 260 Meter.