Text & Fotos: Max Marquardt
Als Jens Heppner vom Rad steigt, hat es knappe 5 Grad über Null. Er nimmt Helm und Sonnenbrille ab. Dunkelblondes Haar, rote Wangen, wache blaugraue Augen – wüsste man es nicht besser, man würde kaum glauben, dass der ehemalige Radprofi 53 Jahre alt ist. Gerade ist Heppner 80 Kilometer durch das Dreiländereck Belgien, Deutschland, Niederlande gefahren. „Typisches Klassiker-Wetter heute“, sagt er und lacht. Er spielt auf die Frühjahrs-Klassiker-Rennen an, die hier jedes Jahr in der Nähe seines Hauses in Kelmis stattfinden und bei denen die Temperaturen meist kaum besser sind als heute. Es sind kleine Straßen und große Namen: Merckx, Riis, Ludwig, Zabel – Legenden des Radsports. Heppner ist eine von ihnen.
In dem kleinen belgischen Örtchen an der Grenze zu Aachen lebt der ehemalige Team Telekom-Fahrer mit seiner Frau und seiner Tochter. Ein modernes Einfamilienhaus mit großer Veranda, Whirlpool und einem Mähroboter, der im Garten surrend seine Kreise zieht. „Herzlich willkommen“, sagt Heppner, als er die Haustüre öffnet. Ein schrilles Pfeifen ertönt. Er drückt hastig einen Knopf auf einer kleinen schwarzen Fernbedienung, um die Alarmanlage zu deaktivieren. Nachdem vor zwei Jahren bei ihm eingebrochen wurde, hat er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. „Gestohlen haben sie nur ein paar Uhren und Ketten, das Teil hier war ihnen wohl zu schwer“, sagt er und deutet auf den goldenen Bambi, der auf einer Anrichte im Wohnzimmer steht.
Heppner geht zielstrebig nacht unten in seinen Fahrradkeller. An der Wand hängt hier neben anderen Rädern auch noch seine alte Pinarello-Rennmaschine. Auf diesem Rad fuhr er in Jan Ullrichs Team seine größten Erfolge. Auf dem im bekannten Telekom-Magenta gehaltenen Rahmen klebt immer noch sein Namensschild am Oberrohr: Jens Heppner. Doch für die meisten ist der Team-Telekom-Star einfach nur „Heppe“ – so wurde er immer genannt. Bei seinen Siegen, in den Medien, von seinen Fans. Heppe streicht mit der Hand über den Rahmen: „Sieht aus wie neu, hm?“
Er zeigt nach rechts auf eine Tür, die in zwei große Räume führt. „Hier unten führte ich mal mein eigenes Fitnessstudio“. In den Zimmern standen bis vor kurzem noch Trainingsgeräte, die Sauerstoffdichte konnte zudem künstlich reduziert werden, um die Luftverhältnisse in großen Höhen zu simulieren. In den Genuss dieses sogenannten „Hypoxietrainings“ kommen normalerweise nur Profisportler. Heppe machte es in seinem Haus auch für Amateure zugänglich. „Teilweise hatten wir 12 Leute gleichzeitig beim Höhentraining hier unten“, sagt er stolz.
Vom DDR-Nachwuchstalent zum Weltstar
Sein Blick schweift durch die leeren Zimmer. Die Trainingsgeräte sind weg, aber nicht die Erinnerungen. Und davon hat Heppe viele. Die meisten davon sind gut. Seine Erfolge als Profi, seine Siege, seine Karriere als Trainer. 1974 fing er mit dem Radsport an, damals noch in der DDR. Er wurde Junioren-Weltmeister, 1990 sogar DDR-Straßenmeister. „Bisher unangefochten“, sagt Heppe und schmunzelt. Kurz nach der Wende fuhr der gebürtige Geraer für das berühmte Team Telekom, war 1997 beim legendären Tour de France-Sieg von Jan Ullrich ganz vorne mit dabei. Für viele unvergessen auch der Kopf-an-Kopf Sprint gegen Bart Voskamp bei der Tour de France 1997. Tausende jubelten ihm zu.
Aber es gibt auch schlechte Erinnerungen. Insbesondere aus der jüngeren Vergangenheit. Die Sache mit seiner Lunge von vor zwei Jahren ist so eine. Als er Unregelmäßigkeiten beim Atmen feststellte, tat er es noch als leichten Husten ab. Doch als er plötzlich nicht mehr den kleinen Berg vor seinem Haus hinaufkam, ohne völlig aus der Puste zu sein, ahnte er, dass etwas nicht stimmen könne. Schließlich ging er zum Arzt – der ihn wieder nach Hause schickte. Wer es mehrfach pro Woche schaffe, auf dem Fahrrad Strecken von 100 Kilometer zurückzulegen, könne nicht ernsthaft krank sein. „Herr Heppner, Sie sind gesund – Zack, Stempel drauf “, kommentiert Heppe ironisch die Fehldiagnose.
"Mental war es eine extrem harte Zeit für mich"
Er ging erneut zum Arzt, diesmal zu einem Lungenspezialisten in Aachen. Der konnte ihm endlich Antworten auf seine Fragen geben – und eine Diagnose, die ihn hart traf. Von seinen beiden Lungenflügeln war nur noch einer übrig. Weil bei einer kleinen Operation 2013 versehentlich seine Pulmonalvene verödet wurde, starb die linke Lungenhälfte komplett ab. Seitdem hat er nur noch ein Lungenvolumen von 48 Prozent. „Man muss wirklich kein Arzt sein, um zu erkennen, dass da was nicht stimmt“, sagt er und zeigt auf einen Ausdruck des Lungen MRTs. Rechts sieht man bunte Umrisse einer Lunge, links nur ein schwarzes Loch. „Mental war das eine extrem harte Zeit für mich“, sagt er und hält kurz inne. „Die Ärzte haben mir anfangs geraten, gar keinen Sport mehr zu treiben. Höchstens Golf, da könne man nicht so hart fallen, falls man wieder mal umkippt.“
Es gibt Tage, da gehe es ihm blendend, so wie heute. „Aber an anderen geht's mir richtig schlecht“, sagt er. Deswegen stehen die Räume, die bis vor kurzem noch sein Fitnessstudio waren, nun leer. Er musste es schließen. „Wie soll ich mit einer halben Lunge Höhentraining machen?“, fragt Heppe. „Und Andere trainieren, das klappt erst recht nicht.“
Zähne zusammenbeißen und weitermachen
Trotz der niederschmetternden Diagnose tat Heppe das, was er immer schon getan hatte: Kämpfen. So wie damals, bei der Vuelta, dem Giro oder den vielen anderen Rennen, die er bestritt. Heppe spielte also Golf, wie es ihm der Arzt geraten hatte. Aufs Rad stieg er trotzdem. Immer und immer wieder. Er fuhr seine Hausrunden, manchmal sogar mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 30 Stundenkilometern, zwei bis drei Mal pro Woche. Was selbst für ambitionierte Hobby-Rennradfahrer ein physiologischer Grenzgang ist, ist für Heppe eine „gemütliche Rentnerrunde“.
Dass er trotz halber Lunge derart fit sei, verdanke er seiner Karriere als Leistungssportler. Er kenne seinen Körper sehr gut und mit dem noch vorhandenen Lungenflügel könne er einiges kompensieren. Nur bei einer Lungenentzündung würde es lebensgefährlich werden. Dann müsse man ihn an eine Lungenmaschine anschließen. „Und was dann kommt, tja“. Heppe runzelt die Stirn.
Heppe erzählt, wie das Radfahren ihm die Kraft gab, nicht aufzugeben. Er flog für Bike-Trips nach Mallorca und Südafrika. „Gute Straßen, nette Leute und das Klima dort tut mir sehr gut“, sagt er. Auch der Austausch mit seinem Freund und Geschäftspartner Björn Müller vom Radreiseveranstalter Prostyle hätte ihn nach der Diagnose wieder auf die Beine gebracht. Der nahm ihn immer wieder auf verschiedene Radsport-Veranstaltungen und Sport-Reisen mit, stellte ihm ein Rad der neuseeländischen Edelmarke Chapter 2 Bikes zur Verfügung. Nur nicht den Mut verlieren, Zähne zusammenbeißen, weitermachen.
Der Austausch mit Radsport-Fans taten ihr übriges. Begeistert lauschten sie seinen Erzählungen, nahmen Tipps vom Ex-Profi an und freuten sich über jede Sekunde mit ihm. Heppe fuhr auf Radrennen und Marathons, die die Agentur seines Freundes veranstaltete und gab seinen Fans Einblicke in das Profi-Leben, erzählte von gnadenlosen Berg-Etappen, harten Wettkämpfen und natürlich der Tour de France. Die Fans waren begeistert, schossen Selfies mit ihrem Star. Für viele ein Moment für die Ewigkeit.
„Das Doping-Problem gibt es überall"
Doch wie hält er es inzwischen selbst mit dem Radsport? Für ihn keine leichte Frage. Zwar wurde auch er wie viele seiner damaligen Rad-Kollegen des Dopings bezichtigt, damit hat Heppe aber inzwischen abgeschlossen. Man könne die damalige Zeit schlichtweg nicht mit der heutigen vergleichen. „Koffein stand zu meiner aktiven Zeit noch auf der Dopingliste, da fragt man sich doch, wo es aufhört und wo es anfängt, mit der Doperei“, sagt Heppe. Siege und Titel nachträglich abzuerkennen, hält er für falsch. „Der Radsport ist auch viel angreifbarer als andere Sportarten, weil hier weniger Gelder fließen, es weniger Sponsoren gibt.“ Die wahren Profiteure, so Heppe, seien beim Doping nicht nur die Sponsoren und Investoren, sondern auch die Doping-Kontrolleure selbst. „Das ist inzwischen genauso ein Geschäft – mit den Kontrollen und den Regularien wird richtig viel Geld gemacht“, sagt Heppe.
„Doping ist ein generelles Problem im Leistungssport, nicht nur im Radsport." Heppe winkt genervt ab. Er lebe nicht im Gestern. Von den alten Geschichten lasse er sich nicht mehr beeindrucken. Was vorbei ist, ist nunmal vorbei. Genauso nimmt er es auch mit seiner seiner Lunge. Zähne zusammenbeißen, weitermachen.
Heppe glaubt nicht daran, dass das mit seiner Lunge nochmal besser wird. „Normalerweise regeneriert sich die Lunge nach Aussagen der Ärzte wieder sehr schnell“, sagt Heppner. Allerdings hatte es bereits eine Zweituntersuchung gegeben und es sähe wohl nicht so aus, als wenn das bei ihm der Fall sei. „Ich habe das schon längst akzeptiert und mich angepasst“, sagt er. „Solange ich noch so fahren kann wie jetzt, passt das für mich.“
Heppe geht wieder nach oben, durchs Wohnzimmer, vorbei am Bambi, raus auf die Veranda. Es hat fünf Grad über Null. Er zieht seine Sonnenbrille wieder auf und läuft zielstrebig zum Whirlpool. Nach all dem Mut fassen, dem Zähne zusammenbeißen, dem Weitermachen, entspannt er hier am liebsten. Er legt sich in den Pool – und atmet tief durch.