Fotos & Video: Julian Hartwig, Max Marquardt
Radfahren ist nicht jedermanns Sache. Doch dem Gedanken gemütlich auf einem Drahtesel die toskanische Herbstsonne zu genießen, nach ein paar Kilometern in einer Taverne einzukehren und es sich bei Wein und italienischer Hausmannskost gut gehen zu lassen, kann wohl kaum jemand widerstehen. So auch wir nicht.
Gelebte Radkultur zwischen Wein, Weib und Gesang
Bereits am Freitag kommen wir in Gaiole an, einem kleinen Städtchen im Herzen der Toskana, genauer genommen im Chianti-Gebiet. Was wir dort sehen, erinnert eher an ein buntes Faschingstreiben, anstatt einer ernstzunehmenden Radsportveranstaltung.
Männer und Frauen allen Alters tragen historische Radkleidung, von Knickerbockern über Rüschenkleider bis zu alten, löchrigen Trikots längst vergessener Marken, Teams und Sponsoren.
Knapp 7000 Teilnehmer haben sich dieses Jahr für das Rennen "der Heldenhaften" angemeldet. Auf dem riesigen Floh- und Teilemarkt können Fahrrad-Enthusiasten und Hobby-Schrauber ihre Sammlung vervollständigen – oder ihre Ausrüstung für das bevorstehende Rennen.
Natürlich ganz im Stil der alten Zeit. Denn auf der „Eroica“ sind nur Fahrräder bis Baujahr 1987 erlaubt. Wer am Rennen teilnimmt, muss sich korrekt kleiden, sonst darf er nicht mitfahren. Funktionskleidung heißt hier: historische Trikots aus schwerer Merino-Wolle, Lederschuhe mit hauchdünnen Sohlen und „Sturzhauben“ anstelle moderner Radhelme.
Es gibt insgesamt vier Renndistanzen, die sich auf den typischen „strade bianche“ (weiße Straßen) erstrecken. Dabei handelt es sich um mehr oder minder gut befahrbare Schotterstrecken, die sich bei Sonne in Staubwüsten und bei Regen in Schlammrutschen verwandeln.
Insgesamt müssen die Teilnehmer der vier Rennen zwischen 665 und 3800 Höhenmeter bewältigen – je nachdem für welche Distanz man sich eingetragen hat.
Unterdessen lebt in den Straßen und auf den Plätzen von Gaiole die Vergangenheit wieder auf. Sie ist nicht schwarzweiß wie auf zeitgenössischen Fotos, sondern knallbunt, verrückt und laut. Zumindest bis kurz vor Mitternacht. Dann sollte man besser Schlafen gehen. Die Rennen starten bereits um 5.00 Uhr Morgens.
Schlaftrunken satteln wir in aller Herrgottsfrühe auf. Die Merinowolle kratzt, durch die Lederschuhe pfeift der Wind und mit unseren Racecaps kommen wir uns ziemlich bescheuert vor. Komatös gleiten wir die ersten 7 Kilometer hinab zum Start. Dort warten bereits Tausende Fahrer auf den Startschuss.
Es geht los!
Die Flaschen werden aufgefüllt, die Bremsen nachgeprüft und die Startnummern festgeknotet. „Avanti! Viva l’Eroica!“, rufen uns die Menschen am Start zu. Die Worte hallen durch die kleinen Gassen des Dorfes und wirken mehr wie ein Lebewohl als eine moralische Stütze. Das kann ja was werden - denken wir uns und prüfen nochmal vorsichtshalber unsere Vorderbremsen.
Nun geht es los und wir fahren dicht gedrängt einen veritablen Pass hinauf zum Castello Brolio, einem burgartigen Gehöft, umgeben von Zypressen und den sanften Hügeln auf denen die Chianti-Reben reifen. Doch für den Genuss bleibt keine Zeit – und keine Nerven.
Auf einer für uns mörderisch erscheinenden Rüttelpiste, dessen feinsandiger Untergrund jegliches Bremsen zur Herausforderung macht, versuchen wir unser Bestes, nicht vom Rad absteigen zu müssen und zu schieben. Das tun bereits viele. Ob aus Angst vor einem Sturz oder auch davor, dass ihr Rad Schaden nehmen könnte. Denn manche alten Stahlrenner liegen ebenbürtig mit dem Preis eines Kleinwagens.
Wer an der Eroica teilnimmt, dem scheint es finanziell nicht allzu schlecht zu gehen. So unterhalten sich zwei Herren, die vor uns fahren darüber, welcher von ihren Porsche mehr Platz in der Garage vereinnahmt. Ein anderer diskutiert mit seinem Kollegen während einer erholsamen aber windigen Abfahrt die Aktienkurse. Oldtimer sind ein teures Hobby – das gilt auch für Fahrräder.
Die Bremsen quietschen, der Staub peitscht uns ins Gesicht und immer wieder "Viva L´Eroica!"
Es geht weiter durch die pittoreske Landschaft, bergab und bergauf. Die alten Bremsen quietschen, der Staub peitscht uns ins Gesicht und immer hören wir das mantrahafte "Viva L´Eroica". Die Wege sind zwar vier Meter breit, wirklich befahrbar ist davon jedoch nur ein knapp 30 Zentimeter schmaler Streifen, der aus dem losen Schotter hervorlugt. Links und rechts davon zu fahren ist nur etwas für Lebensmüde oder Hirnlose, die darauf erpicht sind, die Gesetze der Schwerkraft auszutesten. Im Grunde genommen ist es ein Downhill-Trip mit dem Rennrad.
Nach 30 Kilometern kommen wir verschwitzt am ersten Etappenziel an. Wie für damalige Radrennen üblich, gibt es hier für die Fahrer erstmal etwas zu essen. Und wie. Die ganze kulinarische Vielfalt toskanischer Spezialitäten wird aufgetischt. Die Stimmung ist phantastisch, was vielleicht auch am Chianti liegt, der hier in Strömen fließt. „Das ist das erste Radrennen bei dem ich mehr esse und trinke als fahre“, sagt uns schmatzend ein grauhaariger Amerikaner, der sich uns mit Dave vorstellt.
Dave ist Mitte Fünfzig und ist extra aus Kansas mit einem Freund nach Gaiole gekommen. Für das Rennen der "Heldenhaften", wie es überall geschrieben steht, war Dave kein Weg zu weit. Jetzt wühlt er heldenhaft mit beiden Händen in dem Kuchen auf seinem Teller und grinst wie ein Zwölfjähriger. Lebensfreude - manchmal reichen dafür ein altes Fahrrad und ein Pappteller mit Essen.
"Wir müssen´s ja nicht gleich übertreiben"
Mit vollen Mägen und leicht beschwipst geht es auf unseren 40 Jahre alten Stahlrössern weiter. Wir kommen an eine Abzweigung und müssen uns entscheiden: Entweder zurück nach Gaiole und ins Ziel, oder weitere 30 Kilometer durch die Landschaft strampeln. Wir entscheiden uns für die kürzere Alternative und machen uns auf den Weg zurück.
Auch wenn es eigentlich gut läuft und wir weder eine Panne noch einen Unfall hatten. „Wir müssen´s jetzt nicht gleich übertreiben“, ruft mir mein Begleiter zu. Am Himmel braut sich ein Unwetter zusammen - wir belassen es bei der kurzen Etappe. Am Ziel locken bereits hübsche Radlerinnen, Pasta und, wie könnte es anders sein, jede Menge Wein.
Die Schönheit des totalen Sichverausgabens
Umjubelt rollen wir ins Ziel und erhalten eine Medaille. Verschwitzt und verdreckt waschen wir uns den Staub und Schlamm von unseren Gesichtern. Und es stimmt: Wir fühlen uns wie jene verwegenen Radsport-Pioniere alter Zeiten, deren Namen andächtig auf den vielen Fahrrädern und Trikots prangen: Fausto Coppi, Felice Gimondi, Eddy Merckx. Jetzt sind wir einer von ihnen - denken wir zumindest.
Auch wenn wir natürlich nicht ansatzweise deren Etappen gefahren sind. Darum geht es aber laut L´Eroica Gründer Giancarlo Brocci gar nicht. „Es geht darum, das Radfahren wie die Champions von einst zu erleben, den alten Geist des Sports zu spüren“, sagt Brocci. Seit 1997 organisiert der Italiener das Vintage-Rennen. „Es geht um die Schönheit des totalen Sichverausgabens.“
Zurück in Gaiole endet das „Sichverausgaben“ für uns. Und damit der Traum aus Luft, Landschaft und altem Metall. Bis 22.00 Uhr haben die Fahrer Zeit, das Ziel zu erreichen. Wer später kommt, geht leer aus und muss mit knurrendem Magen nach Hause. Auch das ist ein Teil des Purismus der L ´Eroica.
Alles richtig gemacht!
Die L´Eroica ist mehr als nur ein Radrennen in historischem Gewand. sondern eine Metapher, die exemplarisch dafür steht, es sich im Leben nicht immer nur möglichst leicht zu machen. Es ist genau diese Impferfektion, die das Event so reizvoll macht. Am Abend fallen wir schließlich hundemüde ins Bett. Die Beine schmerzen, Schultern und Nacken spannen, die Hände sind voller Schwielen. Weintrunken grinsen wir uns an: Heute haben wir alles richtig gemacht.