Kurz nach Einbruch der Dämmerung knallen unsere letzten Schüsse aus den Ruger-Halbautomatikgewehren durch den Industriepark. Das Licht wird langsam schlecht, aber wir treffen schon ganz gut.
Zwei Stunden Training bei einem ehemaligen Major der Israeli Defence Forces haben wir hinter uns: Sharon Gat, 45, Bürstenschnitt, Kampfanzug, M4-Sturmgewehr über der Schulter. Einst befehligte er mehr als 20.000 Soldaten. Heute leitet er das Unternehmen „Caliber 3“, das Anti-Terror-Ausbildungen für Sicherheitskräfte anbietet.
Und 100-Dollar-Crashkurse, beworben als „Ultimate Shooting Adventure“, für Leute wie uns: 15 Touristen aus aller Welt. Eine Großfamilie aus Brasilien, zwei Brüder aus Melbourne sowie Andrew aus New York samt Ehefrau und Eltern sind bei dem Schießabenteuer dabei. Umringt von Betonmauern und Stacheldraht, ballern wir auf bunte Ballons.
Es ist eine Party der Gewaltsimulation
Feuerpause. Andrew, Anfang 20, lädt nach. Er trägt Büro-Schwarz-Weiß ohne Krawatte, Business-Casual mit Kippa, als käme er gerade in Manhattan von der Arbeit. Er ist zum Talmud-Studium in Israel, und seine Eltern sind zu Besuch da. Andrew hat sie auf Gats Trainingsgelände geführt, damit sie etwas „Unterhaltung“ bekommen, wie er sagt.
Und tatsächlich erweisen sich Gat und seine Leute einen Nachmittag lang als perfekte Animateure: Sie lassen uns auf und ab spurten und uns zu lauter Musik im Kreis drehen, um dann schwindelig mit Kaliber-22-Gewehren Luftballons abzuknallen. Sie zeigen uns einen simulierten Terrorangriff, eine Geiselbefreiung und die „Neutralisierung eines Gegners“ mithilfe von Schäferhund Zeus. Eine Party der Gewaltsimulation.
Ich habe bei alldem mitgemacht und gehöre zur Gruppe, weil ich es sehen und erleben will und es zuerst nicht glauben konnte: Schießereien und Messerattacken als Familienspaß? Anti-Terror-Training als Urlaubsunterhaltung – quasi statt Wassergymnastik im Hotelpool? Und das ausgerechnet hier?
Ja, genau hier: Das „Caliber 3“-Trainingsgelände liegt in der jüdischen Siedlung Efrat im Westjordanland, und das Geschäft brummt. Über 15.000 Touristen aus aller Welt machen sich jährlich auf die halbstündige Autofahrt von Jerusalem aus – vorbei an Checkpoints und gepanzerten Armeewagen auf der schwer gesicherten Straße. Auch viele europäische Reisegruppen seien dabei, sagt Gat. „Wegen der Situation“, wie er betont.
Er meint die islamistischen Terroranschläge der letzten Jahre in Paris, London, Brüssel, Berlin: den blutig eskalierten Clash der Kulturen, der hier im Westjordanland schon seit Langem Wirklichkeit und Alltag ist. An einem solchen Originalschauplatz, an dem der Hass durch Stacheldraht und militärische Präsenz im Zaum gehalten wird, einmal mit echten Waffen herumzuballern scheint in Zeiten gefühlter Bedrohung für viele eine Verlockung zu sein.
„Es geht hier nicht um Palästinenser, nicht um Araber. Hier geht es um Terroristen!"
Als in der einsetzenden Dämmerung der Muezzin aus dem palästinensischen Nachbardorf Bayt Fajar zum Gebet ruft – es ist durch Zäune und Wachposten von Efrat getrennt –, rückt unsere Gruppe unwillkürlich zusammen und an Gats Kollegen Eitan heran, als wolle sie besser verstehen, was der einstige Elitesoldat zu sagen hat.
Eitan hält eine kleine Ansprache an die Gruppe. Bereits zuvor hatte er betont: „Es geht hier nicht um Palästinenser, nicht um Araber. Hier geht es um Terroristen! Das gleichzusetzen wäre rassistisch. Greift jemand an, dann reagiere ich – egal, wer es ist!“ Auch einen jüdischen Bankräuber würde er erschießen, sagt Eitan. Alle Übungen hier seien allein für den Schutz von Zivilisten gedacht.
Jüdische Bankräuber sind allerdings ein eher nebensächliches Problem im Westjordanland. Stattdessen kommt es immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Besonders seit US-Präsident Donald Trump Ende 2017 die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt verkündet hat, nahmen die Spannungen wieder zu.
Die Palästinenser beanspruchen das Westjordanland für einen eigenen unabhängigen Staat und Jerusalem als ihre Hauptstadt. Israel hatte den Landstrich 1967 während des Sechstagekriegs eingenommen und kontrolliert ihn bis heute weitgehend. Etwa 420.000 israelische Siedler und 2,9 Millionen Palästinenser leben heute im Westjordanland.
Seit Jahrzehnten fordert der Kampf um das Territorium Tote. Eine sattsam bekannte, hochexplosive Gemengelage, in die Trump weiteren Zündstoff gekippt hat. Und in der wir seltsamen Action-Touristen nun eine maximal schauderhafte Counterstrike-Kulisse für unsere Kriegsspiele finden.
Die beginnen nach einigen einführenden Worten von Eitan mit einem klaren Marschbefehl: „Bewegt euch zu den aufgestellten Fotos da hinten“, sagt er und zeigt auf einen Wald voller Pappaufsteller. Scheinbar willkürlich platziert, stehen in einer Ecke des Hofs etwa 20 an Stangen montierte Fotos. „Seht euch die Personen auf den Bildern genau an: Wer könnte ein Terrorist sein?“, fragt Eitan.
Auf einem Foto ist ein Mann mit einem Palästinenserschal zu sehen, er hält einen Besenstiel in der Hand. Sieht so ein Attentäter aus? Daneben hebt eine Frau erschrocken die Hände über ihren Kopf. Da besteht wohl kein Verdacht. Aber da hinten, die Typen mit Äxten und Pistolen, das müssen welche sein – oder?
Plötzlich knallt es. Von hinten stürmen drei maskierte „Caliber 3“-Kämpfer an uns vorbei und ballern auf die Schilder. Die Munition ist echt – ein-, zweimal sehe ich Erde hinter den Fotos aufspritzen, und der Geruch von Schwarzpulver zieht über das Gelände. Nach wenigen Sekunden ist es wieder ruhig.
Eitan zieht sich die Maske vom rasierten Schädel. Manöverkritik. Jetzt sollen wir uns die Bilder noch einmal ansehen und auf Einschusslöcher achten. Tatsächlich sind nur vier der Pappkameraden durchsiebt: die Männer mit den Äxten und Knarren, alle anderen blieben unversehrt, auch der Palästinenser mit dem Besen.
Eitan lässt das Ergebnis auf uns wirken. Für ihn sind die vier durchsiebten Fotos der Beweis, wie präzise israelische Soldaten arbeiten. In wenigen Sekunden können sie in einer Menschenmenge unterscheiden zwischen unschuldigen Zivilisten, die es zu retten, und Terroristen, die es zu „neutralisieren“ gilt. „Amazing“, sagt US-Student Andrew und nickt zustimmend.
Eigentlich trainiert Eitan Profis – aber es kommen immer mehr Touristen
Eitan hat über 20 Jahre in der israelischen Armee als Scharfschütze einer Anti-Terror-Einheit gedient. Er hatte Undercover-Einsätze in Gaza und im Westjordanland, er ist Meister in den Kampfkünsten Krav Maga und Muay Thai. Normalerweise trainiert er auf dem Gelände von „Caliber 3“ Profis: Polizisten, Geheimdienstler, Personenschützer, Soldaten aus Israel und dem Rest der Welt.
Aber in letzter Zeit kämen immer mehr Touristen, Europäer, Chinesen, Südamerikaner, vor allem aber US-Amerikaner, sagt er. Meist seien sie in Israel, weil eine Familienfeier ansteht oder weil sie einfach mal das gelobte Land sehen möchten. Aber was genau lockt sie dann zu „Caliber 3“? Familie Friedlander aus Brasilien, angereist samt der 64-jährigen Großmutter Alice und deren sechsjährigem Enkel Raffael, erklärt, man habe einfach „Lust auf ein wenig Action“ gehabt. Und Andrew ist hier, weil er „Waffen mag“, wie er halb ernst, halb im Spaß sagt. Sein Vater Steven arbeitet im wahren Leben als Universitätsdozent in New York. Er habe einmal erfahren wollen, sagt er, „was die israelische Armee so effektiv macht“.
Zunächst erfährt Steven an diesem Tag, was die Effektivität der israelischen Armee aus Eitans Sicht notwendig macht: „Israel ist von 500 Millionen Feinden umgeben. Im Irak. In Syrien. Im Libanon. Wir brauchen eine starke Armee, um unser Land zu schützen. Beides hatten wir vor 75 Jahren nicht. Das wird sich nie mehr wiederholen.“
Eitan spricht vom Trauma des Holocaust. Sechs Millionen Menschen wurden umgebracht – einzig, weil sie Juden waren. Weil es keine Armee gab, die sie verteidigte. Und keinen eigenen Staat, in dem sie leben konnten. Eitan sieht es so: „Angriff ist für uns die beste Verteidigung. Aber wir töten niemanden, den wir nicht töten wollen.“
Das sollen an diesem Nachmittag verschiedene Kampfdemos veranschaulichen. Erst zeigen uns die Elitesoldaten, wie ein Messerangreifer ganz ohne Schusswaffengebrauch bezwungen wird: allein mit Krav-Maga-Handgriffen und innerhalb weniger Sekunden.
Dann bekommen wir zu sehen, wie Armeehund Zeus einen Angreifer überwältigt. Handys werden gezückt, Andrews Gesicht leuchtet im bläulichen Licht des Displays. Genau verfolgt er, wie der Schäferhund Schlägen ausweicht und so lange an Ärmeln und Hosenbeinen des Terroristen-Darstellers im Schutzanzug zerrt, bis er diesen zu Boden gerissen hat. „Stopp!“, ruft Eitan schließlich. Zeus gehorcht aufs Wort. Eine perfekt choreografierte Leistungsschau der israelischen Armee.
Damit haben Gat, Eitan und ihre Kameraden bald das Vertrauen und die Bewunderung der Touristen gewonnen. Ob man von diesen Jungs was lernen kann? Na klar! Im Angebot von „Caliber 3“ stehen neben Krav-Maga-Kursen auch Überlebenstrainings in der Wildnis und sogar mehrwöchige Bootcamps für Teenager. Im Souvenir-Shop gibt es nicht nur T-Shirts mit „Caliber 3“-Emblem, sondern auch Schlagstöcke, Reizgas und scharfe Waffen zu kaufen – von der leichten 9-Millimeter-Glock bis zum vollautomatischen Sturmgewehr, Waffenschein vorausgesetzt.
Als Profiteur des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern will der Camp-Betreiber Gat sich allerdings nicht begreifen. Sein Camp, in das er in den 14 Jahren seit der Gründung fast 15 Millionen Dollar investiert hat, sei keine kostenpflichtige Ballerbude. Geld mache er mit den regelmäßigen Aufträgen der Regierung. Von den Touristen wolle er etwas ganz anderes: „Die Leute sollen sehen, wie es hier wirklich ist. Viele kennen die Situation in Israel nur aus dem Fernsehen. Sie wissen gar nicht, wie die Arbeit eines israelischen Soldaten tatsächlich aussieht und welche Werte wir vertreten.“
„Zuhören! Aufpassen! Ist das klar?“
Gat sagt, er kenne die Vorurteile gegenüber der israelischen Armee, gerade im Westjordanland. Als unbarmherzig bis blutrünstig gelte sie hier. Dabei stehe sie für Menschlichkeit, Demokratie, Freiheit und Sicherheit. „Kämpfen lernen kann jeder“, so der Firmenchef, „aber ein guter Soldat zeichnet sich durch die Moral und die Werte aus, für die er steht. Und da ist die israelische Armee die beste der Welt.“ Mit dieser Einsicht, das wünscht sich Sharon Gat, sollen die Touristen zurück in ihre Länder reisen und zu „Botschaftern Israels“ werden.
„Zuhören! Aufpassen! Ist das klar?“ Als das Programm seinem Höhepunkt, dem Schießtraining, entgegengeht, verschärft Eitan den Ton. Jede seiner Anweisungen sollen wir nun mit einem lauten „Klar!“ quittieren. Die erste lautet: Jeder holt sich eines der Holzgewehre, die an einer Seitenwand lehnen.
Damit üben wir erst einmal die richtige Schusshaltung: Gewehr fest gegen die Schulter drücken, Hand an den Lauf, ein Bein im 45-Grad-Winkel nach vorn, immer nach vorn, weil es kein Zurückweichen vor dem Gegner geben darf. Eitan schaukelt die Gruppe hoch. Er ruft: „Body!“ Und wir rufen zurück: „Body!“ Wir gehen in Formation – einen Fuß vor, das Gewehr angelegt. Dann schreit Eitan: „Terrorist!“, und wir antworten: „Terrorist!“ Drei-, viermal nacheinander, immer lauter. Eitan will so Aggressivität in die Gruppe bekommen. Ohne Aggressivität, sagt er, ohne das richtige Mindset sei jede noch so gute Waffe wertlos.
Mit den Holzgewehren in Position machen wir unseren Schritt nach vorn, rufen: „Esh! Esh! Esh!“ – hebräisch für Feuer – und schießen auf den imaginären Feind. Es ist ein bisschen wie früher beim Cowboy-und-Indianer-Spielen.
Dann lässt uns Eitan an die echten Waffen. 16 schwarze Ruger-Halbautomatikgewehre, Kaliber 22 mit montiertem Zielfernrohr, liegen auf einem Holztisch für uns bereit. Daneben Munitionspackungen der Marke American Eagle und Patronenmagazine unter einem Tarnnetz. Gruppen werden gebildet, ich stelle mich zu den New Yorkern. Andrew freut sich wie ein Geburtstagskind, kurz bevor es Geschenke gibt. Er findet die Veranstaltung bislang „klasse“ und ist „froh, dass solche Männer für Sicherheit in meiner Heimat sorgen“.
Eitan erklärt uns, wie die Gewehre funktionieren, verbessert bei jedem Einzelnen noch einmal die Haltung und gibt letzte Anweisungen: „Schau durch das Zielfernrohr, such nach dem orangefarbenen Punkt. Und dann Feuer!“
Das Gewehr ist erstaunlich leicht. Als ich den Abzug zum ersten Mal ziehe und die Kugel mit einem hellen Ton gegen die Metallscheibe knallt, ist das eine enttäuschend banale Erfahrung. Kein Adrenalinausstoß, kein Gefühl von „Wow, war ich das?“. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Schussübung relativ idiotensicher ist. Einen großen leuchtenden Fleck auf einer Metallscheibe in 30 Meter Entfernung zu treffen stellt keine gewaltige Herausforderung dar.
Wir feuern auf Luftballons – dazu läuft die Filmmusik von „Rocky“
Aber Eitan und Kollegen legen die Latte gleich etwas höher und hängen Luftballons für ein Wettschießen unter erschwerten Bedingungen auf. Nacheinander sollen wir jetzt zwischen zwei Linien in vielleicht zehn Meter Abstand hin und her rennen, uns fünfmal um uns selbst drehen („dreht ihr euch weniger, lass ich euch noch mal laufen!“, droht Eitan) und dann versuchen, schwindelig im Kopf und außer Atem, die Ballons abzuschießen. Dazu läuft die Filmmusik von „Rocky“.
Andrew rennt und feuert. Sein Vater Steven gibt sich ebenfalls alle Mühe. Und auch Oma Alice aus Brasilien, die Halbautomatik fest an die Schulter gedrückt, schießt Ballon um Ballon von der Leine, während aus den Boxen „Eye Of The Tiger“ dröhnt. Eine knallbunte Baller-Party.
Als wir am Abend das Gelände von „Caliber 3“ verlassen, ist es fast dunkel. Vor uns liegen jetzt wieder die Checkpoints, die Wachtürme und die gepanzerten Armeewagen auf der Straße nach Jerusalem. „Shalom“, wünscht Eitan uns allen zum Abschied – eine friedliche Rückkehr in die Restaurants der Altstadt von Jerusalem und in die Hotels am Strand von Tel Aviv, an deren Bars und Pools schon die nächsten Reise-Highlights warten.
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