Das Schlimmste ist die Panik hinter mir. Und dass ich sie verursacht habe. Vor mir zwingt uns der Tunnel, durch den wir kriechen, immer weiter in die Dunkelheit. Kalt leckt Brackwasser an meinen Knöcheln, ich habe eine Ratte weghuschen sehen, und es ist so eng, dass ich mit meinem Rucksack immer wieder an rostigen Streben hängen bleibe. All das kann ich wegstecken. Aber mit den Schreien meiner Gefährten hinter mir komme ich weniger gut klar: „Wie weit geht es noch?“ – „Ich will hier raus!“ – „Siehst du das Zeichen endlich oder den Ausgang?“
Der Tunnel soll uns in ein verschlossenes Gebäude führen, in dem wir Unterschlupf suchen. Doch ich finde das Kreidezeichen nicht, das uns den Weg weist. Warum war ich nur so vorlaut und wollte vo-rangehen? „Wir müssen zurück“, zischt jemand hinter mir. Erst als wir uns schon umdrehen, fällt das Licht meiner Taschenlampe auf eine Luke über uns. „Da ist er, der geheime Eingang!“
Es ist ein Überlebenstraining, das mich in diese Lage gebracht hat. Nicht etwa in der Wildnis oder in einem Krisengebiet, sondern auf dem Westberliner Teufelsberg: einem bewaldeten Hügel am Rand der Hauptstadt, wo seit dem Ende des Kalten Krieges eine Endzeitlandschaft vor sich hin modert. Einst richteten hier unter den Kuppeln einer Radarstation amerikanische und britische Geheimdienste ihre Überwachungsantennen auf die DDR, heute ragen nur noch Betonrui- nen in den Himmel.
Der ideale Ort, um zu lernen, wie ich im Katastrophenfall in einer zerstörten Stadt überleben könnte. „Urban Survival“ nennt sich das. Wenn Terroristen eine schmutzige Bombe zünden, wenn es zu einem Reaktorunfall kommt, wenn ein Blackout alles lahmlegt und die Zivilisation zusammenbricht: Wo finde ich dann Unterschlupf? Wie komme ich an Essen und sauberes Wasser? Mit welchen Problemen muss ich rechnen, und wie kann ich mich darauf vorbereiten?
Das Szenario: Die öffentliche Ordnung ist in Berlin zusammengebrochen
Deutschlandweit belegen immer mehr Menschen Seminare, in denen man all das lernt. Der Grund dafür? „Die Ängste der Deutschen“, wie eine jährliche Erhebung der R+V-Versicherung heißt: Über 70 Prozent fürchten Terrorattacken. Politischer Extremismus, Flüchtlingsströme, Naturkatastrophen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung zählt diese Dinge zu ihren sieben größten Sorgen.
Kein Wunder, dass auch außerhalb ihres Ursprungslandes USA die Szene der sogenannten Prepper (von prepare, engl. vorbereiten) nach der Finanzkrise 2007 und dem weltweiten IS-Terror der vergangenen Jahre sprunghaft wuchs. Seit 2013 gibt es sie auch hierzulande. „Vor zehn Jahren war Katastrophen-Vorbereitung noch ein abwegiges Hobby einiger Underdogs, heute ist das in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt der Gründer der „Prepper Gemeinschaft Deutschland“, der Krefelder Feuerwehrmann und Katastrophenschützer Bastian Blum.
Das fiktive Szenario für meinen Urban-Survival-Kurs in Berlin ist ebenfalls eine Antwort auf die Angst. Es lautet: Nach tagelangen Regenfällen stehen weite Teile Berlins unter Wasser. Hunderttausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Strom-, Lebensmittelversorgung und die öffentliche Ordnung sind zusammengebrochen. Um dem gefährlichen Chaos zu entkommen, haben wir, eine sechsköpfige Gruppe, uns zum Teufelsberg durchgeschlagen. Dort, in den Ruinen der hoch gelegenen Abhörstation möchten wir ein sicheres Lager aufschlagen.
So weit der theoretische Teil des Kurses. Der praktische beginnt mittags am Fuß des Bergs, passenderweise in strömendem Regen. „Das Wetter ist optimal“, findet unser Coach Kevin, 37, vom Veranstalter Natural Touring. „So seht ihr gleich, wie wasserdicht ihr alles verstaut habt. Das kann überlebenswichtig sein: Wenn Schlafsäcke und Kleidung nass werden, holt ihr euch nachts schnell den Tod.“
Ich habe weder das Rucksack-Kondom dabei noch eine Regenhose an – super Start! Kevin sagt, er habe oben auf dem Berg mehrere Rohrdepots mit Nahrung und Ausrüstungsgegenständen versteckt, die wir finden müssten. „Die paar Kilometer hoch auf den Teufelsberg müsst ihr euch allein durchschlagen!“
"Mir machen nicht Zombie-Filme Angst, sondern die Nachrichten"
So marschieren wir los: drei Frauen und drei Männer in Regenjacken und Trekkingstiefeln, bepackt mit Schlafsäcken und Isomatten. In den nächsten 24 Stunden werden wir uns gemeinsam dem inszenierten Überlebenskampf stellen. Während wir durch knöcheltiefen Matsch bergauf stapfen, lerne ich meine Mitstreiter ein wenig kennen. Als da wären: Sabine und Jasmin, beide etwa Mitte 40, beide Verwaltungsangestellte und ähnlich suboptimal ausgerüstet wie ich. Warum sie an dem Seminar teilnehmen? Eine Mischung aus Abenteuerlust und leichter Sorge: „Es könnte ja mal ein Chemieunfall kommen oder so“, sagt Sabine.
Wie die anderen Teilnehmer will sie ihren echten Namen nicht in der Presse lesen. Ein bisschen verrückt kommt es uns schließlich doch vor, was wir hier tun. Üben für das Ende Deutschlands. Seit letztes Jahr zwei Prepper in Mecklenburg-Vorpommern aufflogen, die sich neben Nahrungsdepots auch staatsgefährdende Gewaltpläne zurechtgelegt hatten, wird die Szene auf Geheiß der Innenminister der Länder zurzeit ähnlich beobachtet wie die Reichsbürger-Bewegung.
Ein Stückchen hinter Sabine marschiert Songül durch den Wald, 40 Jahre alt, von Beruf Flugbegleiterin. „Mir machen nicht Zombie-Filme Angst, sondern die Nachrichten“, sagt sie. Und ihr Cousin Kagan, der neben ihr geht, befürchtet angesichts der Weltlage offenbar das Schlimmste: Anders als der Rest der Gruppe – zu der außer mir noch mein Freund Christian zählt – ist er ausgerüstet wie ein echter Prepper: hat sogar Antibiotika dabei, Chlortabletten und ein Erste-Hilfe-Kit. „Ich bin nicht paranoid“, sagt der Politologe und grinst. „Ich bin einfach nur gern gut vorbereitet.“
Bei mir legt der Waldmarsch eher Schwächen offen: Hoffnungslos überpackt, schwitze ich den Hügel hinauf und erreiche mit durchnässter Hose die Ruinen, wo Kevin uns die Dreier-Regel erklärt: „Drei Stunden könnt ihr durchschnittlich nass und kalt überleben, drei Tage ohne Wasser und drei Wochen ohne Nahrung.“ Wir sollten also dringend Schutz suchen. „Am besten ein Lager irgendwo im Bauch der Anlage aufschlagen“, sagt Kevin. Um einen Weg zu finden, der uns dort hineinführt, untersuchen wir das Gelände.
Echte Prepper wissen, wo ihr Zeug für den Ernstfall versteckt ist
Rund sieben Fußballfelder groß ist die stacheldrahtumsäumte alte „Field Station“. Ihr Herzstück bildet ein verschachtelter Gebäudekomplex mit Türmen, langen Hallen und Gängen. Drumherum: verfallene Außengebäude, Wege voller Bauschrott, vereinzelt ein paar Autowracks. Mein Freund Christian und ich machen Skizzen vom Gelände und zeichnen mögliche Zugänge zur Anlage ein.
Manche Eingänge sind verbarrikadiert, andere nur mit Vorhängeschlössern gesichert. Einen solchen sollten wir nehmen. Doch wie kriegen wir ihn auf? Die Antwort hat Kevin: In einem seiner Notdepots hier oben habe er einen Bundeswehrklappspaten und einen alten Scheibenwischer versteckt. An den Autowracks hängen keine Scheibenwischer mehr, aber die Dinger sind hilfreich, denn darin verlaufen Drähte, die sich als Dietriche zum Schlösseröffnen eignen. Guter Tipp! Allerdings müssen wir nun erst mal Kevins Depots finden.
Unser Coach zeigt uns den Ort, an dem er sie angelegt hat. Echte Prepper wissen natürlich, wo ihr Zeug für den Ernstfall versteckt ist. Kevin lässt uns das moosige Fundament eines nie fertiggestellten Hotels nahe der Radarstation nach seinen „Stashes“ absuchen, wie Prepper ihre Depots nennen. Und natürlich ist es Kagan, der bald findet, woran ich blind vorbeigekrochen bin. Stashes sollen ja nicht jedem ins Auge fallen. Kevin hat sie exakt ins feuchte Mauerwerk eingepasst.
Sie enthalten unter anderem Studentenfutter, ein Erste-Hilfe-Pack, Wasserfilter, Taschenlampen und Tampons. Wozu er die wohl braucht? Und auch ein kleines Kurbelradio halten wir in Händen, das uns über Mittelwelle auf Russisch zubrabbelt. „Ein Radio ist extrem wichtig, weil darüber im Ernstfall Ansagen an die Bevölkerung laufen“, sagt Kevin. Handy-Netze für Notrufe und Internet-Empfang brechen bei massenhafter Nutzung ebenso schnell zusammen wie nach großflächigen Stromausfällen.
Tampons können im Zweifel Leben retten
Mit Klappspaten und Scheibenwischer machen wir uns also ans Schlossknacken. Kevin bricht den Scheibenwischer durch und zieht einen flachen Metalldraht heraus. Damit fummle ich in einem Vorhängeschloss herum. Vergeblich. Doch wer gedient hat, weiß: Bundeswehrspaten kann man zu einer Hacke umklappen, mit der sich störrische Schlösser aufschlagen lassen. Bei mir fliegen nur Funken, bei Christian die Schlossbügel auseinander. Die Tür ist frei. Und vor uns liegt der Tunnel, in dessen Finsternis erst jene Probleme auftauchen, die ich mir vorher nicht ausgemalt hatte.
Ich krieche voraus, finde kein Wegzeichen, und hinter mir wächst die Panik. „Wie weit noch?“ – „Ich will raus!“ Als wir den Ausstieg endlich finden, sind wir zwar in Sicherheit und am Ziel, doch die Stimmung der Gruppe ist am Boden. Vor uns liegt ein düsterer Gang, darin stehen ein paar Metallverschläge, die aussehen wie Hundezwinger.
Kagan möchte darin unser Nachtlager aufschlagen. „Nie im Leben kriegst du mich da rein“, sagt seine Cousine Songül, „da hätten wir ja keinen Fluchtweg!“ Andere mischen sich ein, schon maulen wir alle einander an, und schlagartig wird mir klar: Wenn es hart auf hart kommt, sind soziale Fähigkeiten genauso wichtig wie wasserdichte Rucksäcke. Ich notiere mir in Gedanken: unbedingt Dale Carnegies Klassiker „Wie man Freunde gewinnt“ lesen! Der verrät einem, wie man sein Umfeld geschickt beeinflusst, zum Beispiel indem man anderen das Gefühl gibt, eine Idee stamme von ihnen, oder stets zuerst über eigene Fehler redet, bevor man andere kritisiert.
Mein größter Fehler heute sind die nassen Klamotten. Hunger haben wir mittlerweile alle. Es ist bereits früher Abend, als wir uns darauf einigen, unsere Schlafsäcke in einem kahlen Korridor auszubreiten, der mehrere Ausgänge hat – einen zu einem trümmerübersäten Innenhof. Dort wollen wir unser Lagerfeuer entfachen, uns aufwärmen und die nassen Klamotten trocknen. Leider regnet es immer noch, und wir müssen erst eine Plane aufspannen.
Dann zeigt Kevin uns seine Feuerdose mit Zündstahl: Als er sein Messer an dem Feuerstein entlangzieht, sprüht es sofort Funken. Leider will unser Zunder aus Birkenrinde nicht auflodern. Erst als Kagan einen Tampon aufribbelt, klappt es. „Der Zellstoff ist der beste Zunder überhaupt“, sagt Kevin. Außerdem könne der sterile Bausch zur Bandage oder zum Wasserfilter umfunktioniert werden.
Feuer machen für Fortgeschrittene
Als wir später im Kreis um ein brennendes Fass sitzen, lerne ich mehr von Kevin: Feuermachen geht auch mit den Drähten einer Batterie oder mit dem Akku eines Handys, wenn man zum Beispiel ein Messer an den positiven und den negativen Pol hält. „Aber Vorsicht mit diesen Dingern“, rät Kevin, „nutzt die nur im absoluten Notfall – die können hochgehen und sind supergiftig!“
Viel unkomplizierter hingegen: das Wasserreinigen mit Holzkohle. Wir schneiden eine Plastikflasche auf und lassen hellen Sand und zerbröselte Holzkohle aus unserem Feuer hineinrieseln, Schicht um Schicht. „Diese Schichten reinigen das Wasser von einem Großteil der Bakterien“, sagt Kevin. Jetzt sollte man es eigentlich noch abkochen, aber mir schmeckt der Inhalt einer Regentonne schon ganz passabel, nachdem er nur durch unseren Filter gesickert ist.
Fehlt nur noch das Essen. Während Kevin uns zeigt, wie man aus zwei Rohren und zwei Jacken eine Trage für Verletzte baut (Rohre durch die Jackenärmel schieben), lacht mich das mitgebrachte Grillfleisch an. Was würden wir tun, wenn wir es im Ernstfall nicht dabeihätten und die Supermärkte alle geplündert wären? Kevin empfiehlt einen leichten Bogen für die Jagd. „Viel durchschlagskräftiger sind aber Armbrüste“, wirft jemand ein.
Später in meinen Schlafsack mache ich mir in Gedanken eine Notfall-Packliste: regenfeste leichte Sachen, Rucksack mit den nötigen Dokumenten, Taschenlampe, Zündhilfen, Medikamente, Bargeld, Kurbelradio – und Essen! Damit ich keine Karnickel mit der Armbrust durchlöchern muss. Ich höre mich im Kopf an wie ein echter Prepper. Egal. Am besten wären vielleicht diese ewig haltbaren Armee-Nahrungsrationen, oder?
"Immer weg von der Gefahr, raus aus dem Zentrum großer Städte"
Genau so beginnt der nächste Morgen: US-Army-Energieriegel. Mit entsprechend flauem Magen denken wir bei diesem Trockenfrühstück an den Tunnel, durch den wir gleich zurückkriechen müssen. Doch Kevin hat eine andere Idee: „Nehmen wir an, unser Einstieg sei versperrt. Wie kommen wir hier raus?“ Deshalb stehe ich wenig später mit noch etwas flauerem Magen auf dem Dach der Radaranlage und schaue 25 Meter in die Tiefe. Wer nicht kriechen will, muss klettern.
Kevin reicht mir ein langes Flachseil: „Damit kann man sich auch ohne Gurt abseilen.“ Ich vervollständige in Gedanken meine Packliste um dieses Seil, führe es unter meinem Schenkel hindurch und einmal quer über Brust und Rücken, wo es wieder in meiner rechten Hand landet. Dülfersitz heißt die Technik. Als ich über die Brüstung steige, zittern meine Hände.
Obwohl Kevin mich zur Sicherheit professionell angegurtet hat, fühlt es sich nicht gut an, mit dem Seil die raue Betonwand hinunterzulaufen. Und zwar nicht nur, weil der Oberschenkel brennt, um den es Meter für Meter weiterrutscht. Noch vier, noch drei, zwei ... Als meine Stiefel den Boden berühren, ist meine Prepper-Werdung perfekt: Was für eine Belohnung! Ich habe die ersten 24 Stunden nach der Katastrophe überlebt!
Wie also würde es jetzt weitergehen für uns Überlebende, frage ich Kevin, als auch er unten angekommen ist. „Wir müssten versuchen, Anschluss zu finden an eine größere Gruppe“, sagt er. Wichtig sei zusammenzubleiben. Die Idee, sich allein durchzuschlagen, sei „wildromantischer Quatsch“. Unterschlupf würde er überall dort suchen, wo noch „einigermaßen Ordnung“ herrsche, vielleicht in Auffanglagern des THW oder der Bundeswehr. Wo diese Orte sind? Verrät das Radio. Hoffentlich. Grundsätzlich gelte, sagt Kevin: immer weg von der Gefahr, raus aus dem Zentrum großer Städte.
Ich blicke vom Teufelsberg Richtung Berlin. In der Ferne sehe ich die Dächer der Stadt, den Fernsehturm, den grauen Himmel. Alles wie immer. Ich war schon lange nicht mehr so froh darüber.