Autor: Krisha Kops
Zerbrochenes Glas. Ein halber Döner großzügig über den Boden verteilt. Grölende junge Männer im Tutu. Höchstwahrscheinlich eine Junggesellenabschiedsgruppe, die ihr Glück nachher im nächsten Billigbordell ver- sucht. Ach Prag, du kannst so hässlich sein. Dabei ist Prag eine wunderschöne Stadt: mit ihrer Gotik und ihrem Barock, ihrer Moldau und ihrem Kafka, ihrem böhmischen Gulasch und Absinth. Eigentlich. Wären da nicht die Pauschaltouristen, die nahezu jeden Ort, von Prag über Palma de Mallorca bis Hurghada, in ein Abbild ihrer Bedürfnisse verwandeln – natürlich zur Enttäuschung jedes Reisenden, der in der Ferne anderes erleben möchte als die Alltagsflucht frustrierter Angestellter, die irgendwo, wo niemand sie kennt, die Sau raus- und die Sonne reinlassen müssen.
Mit der Verwandlung einst malerischer Küstenstriche Spaniens in betonierte anonyme Bettenburgen- Ghettos fing es in den 1950er-Jahren an. Und man hätte schon damals sehen können, wie notwendig es eines Tages werden würde, dass wir das Reisen wieder zu etwas Besonderem machen. Nicht nur der Umwelt zuliebe, deren Schützer uns den ökologischen Irrsinn des massenhaften touristischen Fernverkehrs längst in erschreckenden Zahlen vor Augen führen. Nein, ich möchte hier weniger unser zunehmend schlechtes Gewissen an- sprechen als vielmehr: unsere schwindende Gabe, das Reisen zu genießen. Auch weil beides zusammengehört.
Das Reisen zur Veränderung und Weiterentwicklung des Passagiers
Haben wir nicht längst vergessen, was es überhaupt heißt zu reisen? Heute können wir innerhalb von 24 Stunden fast überall auf der Welt sein. Von Singapur nach New Jersey werden mehr als 15.000 Kilometer nonstop in 19 Stunden überflogen. Für die circa 1200 Kilometer von Peking nach Shanghai braucht man mit dem Zug keine fünf Stunden mehr. Von München nach Prag? Keine Stunde Flug. Und das alles oft nur für ein paar Euro. Entsprechend wollen wir von der Reise an sich am liebsten nichts mehr mitbekommen. Wir ziehen die Fensterblenden runter und vertreiben uns die Zeit mit Blockbustern. Nackenkissen und Jogginghosen geben genauso davon Zeugnis, dass wir das heimische Sofa mental eigentlich gar nicht verlassen haben. Dass wir nicht neugierig und interessiert Erlebnisse suchen, sondern uns vor Erfahrungen abschotten hinter der Garnitur der eigenen Bequemlichkeit, in der wir uns eingerichtet haben. Das Reiseziel heute: nur noch aus- tauschbare Kulisse unserer Selfies. „New York, da bin ich!“ Und nun? Was essen, bisschen shoppen, saufen, schlafen. Ich – einfach unverbesserlich.
In Kulturen vor der unsrigen bedeuteten Reisen nicht Veränderung des Zielortes durch die tumbe Anwesenheit des sich Erholenden, der seine Privatsphäre auf den Globus ausdehnte und so schnell wie möglich „da sein“ wollte. Reisen waren Veränderung und Weiterentwicklung des Passagiers. Im alten China zum Beispiel musste ein Künstler für seine Persönlichkeitsbildung 1000 Kilometer gelaufen sein, ehe er sich ans Werk machen durfte. Nichts anderes hat es mit den Wanderjahren auf sich. Und indische, christliche wie sufistische Geistliche pilgern noch heute. Der japanische Dichter Basho und der deutsche Goethe wären ohne ihre Reisen um Tausende Ideen ärmer geblieben. Denn im besten Fall reißt das Reisen uns aus gewohnten Denkweisen und zwingt uns, unser Welt- und Selbstbild zu renovieren. Man kennt dieses Motiv aus Erzählungen indigener Kulturen in Australien und Nordamerika: Der Reisende setzte sich nach einem langen Weg erst einmal hin und tat nichts, denn er musste warten, bis auch seine Seele eintraf und er mit sich selbst wieder ins Reine kam.
"Verbieten Sie sich auf Flugreisen selbst die Jogginghose"
Von diesen Ideen des Reisens können wir lernen. Zum Beispiel dass wir vielleicht nicht immer den schnellsten und bequemsten Weg wählen sollten, sondern einen herausfordernden und beeindruckenden. Mit dem Motorrad nach Indien? Dafür muss man, was Arbeitszeit und Finanzen angeht, natürlich privilegiert sein. Also vielleicht erst mal mit dem Fahrrad zum Gardasee? Anstatt zu fliegen könnte man auch mit dem Zug von München nach Villach und weiter nach Ljubljana fahren und dabei die von Schnee bedeckten Alpen betrachten. Oder beim Fliegen abends wenigstens die Fensterblende hochschieben und die Wolkenformationen samt Sonnenuntergang bestaunen. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, bei diesem Anblick in 10.000 Meter Höhe und bei über 800 km/h zu dinieren! Auch wenn, dem Massentourismus sei Dank, labberige Sandwiches und Plastikbecher den Eindruck im Flugzeug heute durchaus schmälern.
Als Flugreisen noch ein Privileg der gut Betuchten waren, speiste man in luftigen Höhen aus schwerem Porzellan – und zollte der Besonderheit des Erlebnisses noch in feinem Zwirn gebührenden Respekt. Auch das kann ich empfehlen: Verbieten Sie sich auf Flugreisen selbst die Jogginghose. Tragen Sie einen (am besten knitterfreien) Ihrer besten Anzüge. Die Stewardessen bemühen sich ja auch stets tadellos gewandet und mit einem Lächeln um Ihr Wohl. Und sollte Ihr Koffer unterwegs verloren gehen, stehen Sie anschließend wenigstens im Dreiteiler auf der Straße in Ho-Chi-Minh-Stadt und nicht im Sweatshirt. So bekommen Sie sicher ein Zimmer in einem guten Hotel – was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Sie Ihr Gepäck bald wiedersehen.
"Begreifen wir also das Reisen wieder als das, was es ist: ein Erlebnis, ein wertvoller Genuss"
Wer für sich selbst die Qualität seiner Reisen erhöht, reduziert deren Quantität – es sei denn, er ist finanziell und zeitlich außerordentlich unabhängig. Für die Normalverdiener unter uns gilt: Die größere Seltenheit macht das Reisen zusätzlich besonders und steigert den Wert des Erlebnisses. Ich fände es auch gar nicht beklagenswert, wenn das Reisen allgemein teurer und das Fliegen wie einst wieder zum Luxus werden sollte. Denn es ist keine soziale Errungenschaft, dass sich heute fast jeder Deutsche einen all- jährlichen Fuerteventura-Urlaub leisten kann. Man bedenke nur einmal, dass rund 80 Prozent der Menschheit noch nie geflogen sind, weil es für sie un- erschwinglich ist. Würden all diese Menschen genauso viel fliegen und verreisen wie wir, bräuchten wir bald überhaupt nicht mehr in wärmere Urlaubsgefilde zu entfliehen, sondern hätten einen Klimawandel, der uns Palmen in die Kleingärten zaubert.
Begreifen wir also das Reisen wieder als das, was es ist: ein Erlebnis, ein wertvoller Genuss. Das tut nicht nur der Umwelt gut, sondern vor allem uns selbst. Ich für meinen Teil buche mir im Frühjahr eine Zugreise von Berlin nach Prag, und zwar eine mit tschechischem Restaurantwagen. Hier gibt es noch Tischdecken, Waffeln zum Kaffee und Bier vom Fass zu frisch gekochten böhmischen Knödeln. Tutus habe ich hier bisher noch keine gesehen. Nur Kellner mit Schürzen. Und Gäste im Anzug. Wie zu einer Zeit, in der das Reisen noch etwas Besonderes war.