Illustration: Michael Pleesz
Wer das traditionelle Männerbild unserer westlichen Gesellschaften kritisiert, findet zurzeit mehr Anklang und Echo als je zuvor in der Geschichte des Patriarchats. Aber auch die Abneigung, die allergische Reaktion auf die Kritik, fällt heftiger aus als in Zeiten, in denen sie sich noch überall mit einem sexistischen Herrenwitz weglächeln ließ. Vielleicht weil viele Männer ahnen, dass ihr eigenes herkömmliches Rollenbild des harten Kerls nicht sonderlich gesund ist. Ganz sicher aber, weil man als erwachsener Mann ungern mit großen Begrifflichkeiten belehrt wird. Ich versuche es daher gern mit einem einfachen Beispiel: Was empfinden Sie, liebe Leser, als normaler: zwei Männer, die sich prügeln, oder zwei Männer, die sich küssen? Die Antwort verrät viel über unsere Kultur und Denkweise.
Meine Eltern sind aus dem Kongo über Rumänien nach London eingewandert, als ich sechs Jahre alt war. Mein Großvater hatte diplomatische Verbindungen, so- dass wir die kriegszerrüttete Demokratische Republik Kongo verlassen konnten. Im Norden Londons sind wir in eine Sozialwohnung gezogen, und hier bin ich in einer großen Community von Kongolesen aufgewachsen. Die Männer unserer Kirchengemeinde organisierten kulturelle Aktivitäten für Jugendliche, es gab ein Blasmusik-Ensemble, Sport, gemeinsame Essen. Wir nannten sie Onkel, obwohl sie keine Blutsverwandten waren. Es war eine schöne, sehr enge Gemeinschaft.
Mein Vater ging oft Hand in Hand mit Männern unserer Community spazieren, das hatte ich schon als Kind beobachtet. Auch ich hielt meine Onkel an den Händen, wenn wir miteinander sprachen oder zusammen liefen. Das ist in frankofonen afrikanischen Kulturen völlig normal – und überhaupt in vielen Kulturen der Welt, zum Beispiel im arabischen Raum. Meine Onkel kleideten sich im einzigartigen Stil kongolesischer Männer mit Jeans mit hoher Taille, bunten Shirts, auffälligen Designerteilen und exzentrischen Mustern, die Klamotten lagen eng an ihren oft unsportlichen Körpern an. Sie unterhielten sich laut und lebhaft auf Lingala. Wenn ich mit meinen Onkeln Hand in Hand durch die Straßen von Tottenham ging, nahm diese für uns normale Art, einander unsere Zuneigung zu zeigen, auf einmal eine peinliche Note an. Leute blieben stehen, Jugendliche zeigten auf uns. Ich schämte mich plötzlich. Gerade als Heranwachsender hat mich diese Schere zwischen der Binnen- und der Fremdwahrnehmung stark verwirrt. Ich hatte damals keine Worte dafür, hatte aber unbewusst bereits begriffen, dass Männlichkeit nicht überall dasselbe bedeutet.
Als Teenager hatte ich keine Ahnung vom westlich geprägten Patriarchat und dessen Auswirkungen, auch wenn ich sie gespürt habe. Ich fand im Basketball Anerkennung und Zugehörigkeit, eigentlich wollte ich Profi-Spieler werden. Gleichzeitig war ich oft traurig und aggressiv, ich wusste nicht, wohin mit mir und fand keine Möglichkeit, meine Gefühle zu teilen. Ich fühlte mich allein und antriebslos. Im Englischen gibt es einen Ausdruck, der Jungs oft begegnet: Man up. Sei männlich. Was so viel bedeutet wie: Als Mann musst du stark sein, kämpfe für dich, sei der Ernährer, zeig keine Gefühle, denn sie stehen für Schwäche.
"Männer verüben weltweit knapp 80 Prozent der Gewalttaten und werden auch am häufigsten Opfer von Gewaltkriminalität"
Vielen Männern ergeht es wie mir. Sie sind es nicht gewohnt, ihre Emotionen zu äußern, sie denken, sie müssten ihr Leiden allein ertragen. Manche gehen aus diesen Phasen gestärkt hervor, aber für viele kann das jahrelange Unterdrücken von Schmerz fatale Folgen haben. Männer sind dreimal so anfällig für Alkoholismus und regelmäßigen Drogenkonsum wie Frauen, sie werden auch häufiger obdachlos. Statistisch gesehen, leiden Männer zwar seltener an Depressionen als Frauen, aber sie suchen sich auch weniger häufig professionelle Hilfe und haben oft kaum Zugang zu sozialer Unterstützung. Männer be-gehen circa drei von vier Suiziden – Selbstmord ist die häufigste Todesursache von Männern unter 35. Denn Männer wählen oft gewalt-volle Arten von Suizid, die zu einer höheren Sterblichkeit führen.
Die männliche Gewalt richtet sich aber nicht nur gegen den eigenen Körper, sondern auch gegen andere. Männer verüben weltweit knapp 80 Prozent der Gewalttaten und werden auch am häufigsten Opfer von Gewaltkriminalität. Oft lernen Jungs schon im Kindesalter, dass Gewalt und Aggression probate Mittel sind, während Mädchen diese Verhaltensweisen eher abtrainiert werden. Frauen fallen häufiger häuslicher Gewalt zum Opfer. Aus einem 2018 veröffentlichten Forschungsbericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNDOC) geht hervor, dass ihr eigenes Zuhause für Frauen der gefährlichste Ort ist. Die Aggressionen gegenüber Frauen, die viele Männer empfinden, haben viel damit zu tun, dass Männer untereinander kaum über sich sprechen, sowie mit der mangelnden Fähigkeit, Gefühle wie Wut zu verarbeiten. Ein signifikantes Problem dabei sind internalisierte Wut und unterdrückter Frust. Viele Jungs wachsen damit auf und leiden als Erwachsene noch immer darunter, was ihre psychische Gesundheit enorm belastet.
Das Stigma der Männlichkeit, die psychische Probleme mit sich bringt, wird sich erst auflösen, wenn Männer, die darunter leiden, nicht mehr beschämt und zum Verstummen gebracht werden. Wir brauchen mehr Männer, die offen über ihre Erfahrungen mit seelischen Nöten sprechen. Dazu gehören auch ganz normale alltägliche Erlebnisse, nicht nur die großen Kämpfe. Nur so können wir unser stereotypes Männerbild auflösen, das Frauen und viele Männer gleichermaßen unterdrückt. Es gibt viele Arten der Männlichkeit. Aber oft wird diese Vielfalt gerade jungen Menschen nicht nahegebracht. Sie wachsen mit einem eingeschränkten Bild auf. Es fehlen Vorbilder, die nicht den klassischen Stereotypen entsprechen.
Ein erster Schritt kann die Selbsterkenntnis sein. Wer sich mit seinen Gefühlen befasst, sie vielleicht verschriftlicht, kann Zugang zu seinem Leiden finden und es lindern. Es hilft Männern zudem, wenn sie Texte von und über Frauen lesen, weil die weibliche Perspektive ihnen eröffnet, wie sich für Frauen das Leben in den aktuellen Strukturen an-fühlt. Empathie ist der erste Schritt hin zur Veränderung. Ebenso ist es sinnvoll, auf andere Kulturen zu schauen, gerade auch auf vorkoloniale, um sich bewusst zu machen, dass Verhaltensweisen und Anforderungen ei-nem steten sozialen Wandel unterworfen sind.
Wir Männer sollten bei uns anfangen, ungesunde Verhaltensweisen und daraus resultierende Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen und Männern hinter uns zu lassen. Wer den Mut aufbringt, kein stereotyper Mann zu sein, von dem werden alle profitieren.
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