„2001“ heißt das neuste und insgesamt sechste Studioalbum von Tokio Hotel. So wie das Jahr, in dem sich Bill und Tom Kaulitz, Georg Listing und Gustav Schäfer kennenlernten und zu einer Band zusammenschlossen. Einer Band, der 2005 der große Durchbruch mit ihrem Hit „Durch den Monsun“ gelang. Rasant ging es mit bergauf mit der Karriere der vier Teenager, schnell wurden sie zu gefeierten – und vor allem begehrten – Weltstars. Der Druck, der auf Tokio Hotel lastete war enorm, erzählen die Mitglieder heute. So enorm, dass Bill und Tom 2010 nach Drohungen, Stalking und anderen Negativ-Vorkommnissen nach Los Angeles ziehen. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, können Tokio Hotel ihre Vergangenheit wieder „feiern“, wie sie uns im Gespräch erzählen. Wir treffen Tom Kaulitz, der heute mit Topmodel Heidi Klum verheiratet ist, Bill Kaulitz und Georg Listing zum Video-Interview.
Bill, Tom und Georg: Angenommen, Sie würden sich erst jetzt kennenlernen – wären Sie dann miteinander befreundet?
Tom: Nee.
Georg: Ich glaube, wir würden uns gar nicht begegnen. Ich hänge nicht in Paris auf der Fashion Week ab so wie Bill. Ich gehe zu Union in die Alte Försterei, trinke Bier und gucke Fußball.
Bill: Wir sind einfach so unterschiedlich. Aber: Wir haben halt so ein Urvertrauen ineinander. Wir haben den Großteil unserer Leben zusammen verbracht, sind zusammen aufgewachsen, haben so viel miteinander durchgemacht. Und das ist einfach unerschütterlich. Das ist wie Familie – die kann man sich auch nicht aussuchen.
An die Vergangenheit erinnert auch der Name Ihres neuen Albums: „2001“ war das Jahr, in dem Sie sich gegründet haben. Haben Sie es nach über 20 Jahren im Business nicht satt, ständig zurückzublicken?
Bill: Unsere Vergangenheit ist Teil der Geschichte, und die feiern wir auch. Ich glaube, es ist mittlerweile auch genug Zeit vergangen. Als ich mein Buch geschrieben habe, das letztes Jahr erschienen ist, ist mir aufgefallen, dass es viel schwieriger ist, über die jüngste Vergangenheit zu schreiben und nachzudenken als über die Dinge, die passiert sind, als wir noch Kinder waren. Wir sind heute Mitte 30 – wenn man jetzt zurückschaut, kann man seine Kindheit und die Anfänge irgendwie anders umarmen und wieder feiern.
Woran liegt das?
Georg: Ich glaube, es liegt zum Großteil am menschlichen Gehirn. Die negativen Dinge werden irgendwann alle ausgelöscht, und die positiven Dinge bleiben.
Bill: Wir sind nicht nachtragend. Wir erinnern uns vor allem an das Positive und eher wenig an das Negative. Manchmal begegnet man Menschen wieder und denkt sich so: Stimmt, das waren die Arschlöcher, jetzt fällt’s mir wieder ein.
Tom: Ich glaube, es liegt auch daran, dass wir noch nie so glücklich in unserer Karriere waren wie aktuell. Alle Entscheidungen, die wir getroffen haben – egal ob positiv oder negativ – haben uns ja zu diesem Punkt jetzt gerade geführt.
Und was macht Sie aktuell so glücklich?
Tom: Dass wir das beste Album geschrieben haben, was bisher veröffentlicht wurde. Nicht nur von Tokio Hotel, sondern insgesamt.
Bill: Ja genau, von allen Alben, die jemals gemacht wurden (lacht). Wir haben irgendwie das Gefühl, dass alles möglich ist. Wir fühlen uns richtig wohl mit dem, was wir machen. Es ist wie so nach einer Midlife-Crisis, wo sich viele Türen öffnen. Wir sind gerade in der zweiten Blüte unserer Karriere.
Können Sie grob beschreiben, wie Ihr Album klingt?
Tom: Ja, das ist nicht einfach (lacht). Das Album ist eigentlich eine Compilation der Highlights aus den letzten vier, fünf Jahre Songwriting.
Da kommen doch einige Songs zusammen, oder?
Tom: Genau. Wir bringen relativ selten Alben raus, machen aber die ganze Zeit Musik. Deshalb war es auch eine schwierige Aufgabe, alles zusammenpacken. Jetzt ist es gespickt mit 16 für uns richtig wichtigen Songs, da ist nicht ein Albumfüller drauf.
Tom Kaulitz im Playboy-Interview: „Es ist irgendwie krass, dass man mit 33 schon auf so eine lange Karrierelaufbahn zurückblicken kann“
Sie haben auch Ihre Durchbruch-Single „Durch den Monsun“ neu aufgelegt. Wieso?
Tom: Das war eigentlich so ein bisschen der Grundstein für das Album. Als der Song vor zwei Jahren seinen 15. Geburtstag gefeiert hat, haben uns gefragt, wie er klingen würde, wenn wir ihn heute machen würden.
Bill: Zuerst wollten wir nur eine Geburtstagsversion aufnehmen, um unseren Fans eine kleine Freude zu machen. Als wir dann wieder alle zusammen im Studio waren, hat sich das ein bisschen wieder so angefühlt wie damals. So kam uns der Gedanke: Ey, lasst uns doch mal wieder an ein Album denken.
Wie machen Sie das bei Konzerten – spielen Sie dann die neue und die alte Version?
Tom: Gute Frage, das haben wir uns noch gar nicht überlegt. Aber die Originalversion werden wir auf jeden Fall spielen, weil wir wissen, dass die Fans sie hören wollen. Für uns ist das auch immer ein spezieller Moment auf den Konzerten. Vielleicht fangen wir mit der neuen an und hören mit der Originalversion auf.
Bill: Wenn man auf ein Konzert geht, will man immer den größten Hit von der Band hören. Den Song von damals, in den ich mich verliebt habe. Man will nostalgisch sein.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an die alte Zeit zurückdenken?
Tom: Das fühlt sich wie ein anderes Leben an. Aber es ist natürlich auch irgendwie krass, dass man mit 33 schon auf so eine lange Karrierelaufbahn zurückblicken kann.
Haben Sie damals eigentlich realisiert, wie erfolgreich Sie waren?
Tom: Nee. Man versteht das Leben ja immer eher rückwärts. Ich glaube auch, dass wir heute erst uns darüber bewusst sind, wie sehr wir Leben beeinflusst haben und wie sehr wir die Jugend geprägt haben. Damals waren ja selber noch Kinder.
Bill: Manchmal wusste ich gar nicht, wo ich gerade auftrete – in welchem Land wir sind, wie die Stadt oder die Award-Show heißt. Das habe ich mir dann nach oben auf die Setlist geschrieben. Sagen durfte ich das natürlich niemandem. Es war einfach alles so ein Rausch, hat sich angefühlt wie ein langer Traum.
Georg: Wir waren Monate lang am Stück unterwegs. Gefühlt ging es alle zwei Monate mal zum Wäschewaschen nach Hause. Dann hatten wir einmal im Jahr fünf Tage frei, und dann ging es irgendwie weiter. Man hatte eigentlich keine Zeit, die Dinge zu genießen.
Als ich 12 oder 13 Jahre alt war, konnte man sich in der „Bravo“ für jeden von Ihnen als Freundin bewerben. Ich habe mich für Sie beworben, Tom, aber es kam nie etwas zurück …
Tom: Ich wollte doch gerade sagen, (lacht) ich kenn Sie doch irgendwoher.
Nur so eine Standard-Autogrammkarte hat’s gegeben.
Tom: Bill, sag mal ehrlich: Die Vorauswahl haben wir nicht getroffen, oder?
Bill: Versuch nicht dich rauszureden, Tom. Du hast jeden Brief gelesen.
Tom: Waren ja nicht so viele Bewerbungen bei mir (lacht).
Wie ist das Ganze dann abgelaufen?
Tom: Wir wurden eine schöne Location kutschiert und mussten dann so 25 Mädels beim Speed-Dating kennenlernen.
Ach, wirklich jetzt?
Tom: Ja, ja, klar. Und Georg war damals viele Jahre mit seiner Auserwählten zusammen, glaube ich, oder? (lacht)
Georg: Ich glaube, bei mir hatte sich damals niemand beworben, wolltest du eigentlich sagen.
Tom: Nein. Das wollte ich nicht sagen. Wir hatten alle 25. Aber das war echt ein weirdes Ding.
Bill: Wir haben den Bachelor erfunden.
Tom: Stimmt, das war der Grundstein für den Bachelor.
Wie stehen Sie heute dazu, dass Ihre Liebesleben und Ihre Sexualität in der Öffentlichkeit damals so stark thematisiert wurden?
Bill: Wenn du dir das heute anguckst, ist das echt befremdlich. Ich habe gerade einen Artikel von unseren Exfreundinnen gefunden, die vor der Schule interviewt worden sind. 15-jährige Mädchen, die gefragt wurden, wie weit sie gegangen sind, wann sie das erste Mal Sex hatten und so. Das wäre heute nicht okay. Da merkt man, dass wir 2022 dann doch schon sehr viel weiter sind. Zum Glück.
Tom: Wir selbst wurden auch sehr unter Druck gesetzt von den Medien. Mit irgendwelchen Deals und irgendwelchen Sachen, die wir machen mussten. Ich weiß noch, dass ich mich mit der Freundinnen-Suche damals sehr unwohl gefühlt habe. Da wurden wir schon ein bisschen reingedrückt. Also wir hatten da nicht alle unseren Spaß dran. Vielleicht ein paar, aber ich …
Bill: Ein paar vielleicht schon (lacht).
Tom: Aber ich wüsste nicht wer.
Georg: Ich auch nicht.
Würden Sie sagen, dass dieser „Liebes-Klatsch“ Auswirkungen auf Sie gehabt hat?
Tom: Es hat ein absoluter Druck auf unserem ganzen Privatleben gelastet. Wir haben mit aller Macht versucht, unsere Freunde, unsere Familie, unsere Freundinnen aus der Öffentlichkeit rauszuhalten. Das hat natürlich einen riesigen Einfluss auf unsere Leben gehabt. Bill und ich sind dann ja auch aus Deutschland weggegangen.
Dieser Rückzug war also dem Hype geschuldet?
Bill: Es war einfach ein Overload. Wir hatten keinen Bock mehr, wir konnten unseren eigenen Namen nicht mehr hören. Ich glaube auch, die Leute konnten unseren Namen nicht mehr hören. Das war zu viel Tokio Hotel. Und wir hatten ja auch kein Leben nebenbei. Wir wollten entdecken, wer wir außerhalb der Karriere sind. Wir wollten uns nicht immer verstecken müssen, auch mal verliebt sein und was unternehmen, ohne dass das am nächsten Tag in der Zeitung steht.
Bill Kaulitz im Playboy-Interview: „Es hat was Selbstbestimmtes, sich öffentlich nackt zu zeigen“
Themenwechsel: Was für einen Bezug haben Sie eigentlich zum Playboy?
Georg: Meinen ersten Playboy habe ich mit 14 zur Jugendweihe geschenkt bekommen. Ich fand das Magazin ganz ansprechend.
Bill: Ich war auf einer Party in der Playboy Mansion, wo ich Britney Spears kennengelernt habe. An dem Abend sind damit mehrere Träume für mich in Erfüllung gegangen: Hugh Hefner die Hand schütteln, die Bunnys sehen und die Grotte einmal von innen bestaunen. Die kannte ich bis dahin nur aus meiner absoluten Lieblingsserie „Sex and the City.“
Tom: Genau, das war eine mega Party. Daran sieht man auch, dass Playboy absoluter Kult ist. Und darum machen wir heute das Interview, das passt so gut zum neuen Tokio Hotel-Album, was auch Kult sein wird (lacht).
Wie finden Sie die Akt-Aufnahmen?
Bill: Ich finde Nacktheit überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil, es hat was Selbstbestimmtes, sich öffentlich nackt zu zeigen. Der Playboy steht auch für selbstbestimmte, confidente Frauen, die sich stilvoll in Szene setzen.
Und wofür steht Männlichkeit in Ihren Augen?
Tom: Männlichkeit bedeutet für mich, absolut man selbst und authentisch zu sein.
Bill: Für mich gibt es das gar nicht. Ich bin schon immer jemand gewesen, der die Grenzen nicht groß beachtet hat. Mich haben diese ganzen Schubladen gelangweilt. Ich finde, wir brauchen die gar nicht mehr. Darum: Wenn ihr einen Mann aufs Cover nehmen wollt, fragt mich doch mal.
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